: Eske Hicken
: Homeless Roman
: Edition W
: 9783949671586
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 280
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Vier Menschen, eine Stadt, zwei Welten: Helen und Richard können sich veganen Truthahn und Achtsamkeitskurse leisten, während sich Katie und John dem Überlebenskampf auf der Straße stellen müssen. Sie alle leben in Portland, USA, einem Zentrum der Alternativ- und Hipsterkultur, wo zugleich tausende von Menschen obdachlos sind. Als eine rechte Bürgerinitiative auftaucht, die gegen Obdachlose hetzt, und schließlich sogar Zelte angezündet werden, geraten die vier in einen Strudel gewaltsamer Ereignisse, der sie an die Grenzen des Aushaltbaren treibt. Die Spannungen zwischen den Milieus hat Eske Hicken vor Ort erlebt und in einen packenden Roman verwandelt, der unter die Haut geht und von Schicksalen erzählt, denen wir künftig auch in unseren Breitengraden begegnen könnten.

Eske Hicken, geboren 1971 in Delmenhorst, ist Radio- und Fernsehreporterin. 2017 nahm sie eine berufliche Auszeit und arbeitete ein Jahr lang bei einer Organisation in Portland, die für die Rechte von Obdachlosen kämpft. Eske Hicken lebt in Frankfurt am Main.

Portland #1


In unserem Amerika gewinnt die Liebe. Es sind Zeiten, in denen man das gar nicht deutlich genug sagen kann. Sehr viele Leute haben sich diese Schilder in die Vorgärten gestellt: In unserem Amerika. Steht darauf. Gewinnt die Liebe. Sind alle Menschen gleich. Und Schwarze Leben zählen. Und Flüchtlinge und Frauen und Menschen mit Behinderungen. Willkommen in Portland, Oregon! Recycling ist hier selbstverständlich, Fahrradfahren auch. Antirassismus gar keine Frage! In den Straßen riecht es nach Weed, Restaurants haben genderneutrale Toiletten und es ist kein Problem, vegan und glutenfrei zu leben. Gleichzeitig. Wir feiern die Vielfalt! Und wer etwas hat, der soll etwas zurückgeben. Auf der Seite der Armen und Unterdrückten zu sein, war immer klar. Es war allerdings nicht klar, dass die Armen und Unterdrückten irgendwann vor der eigenen Haustür auftauchen würden.

Katie: Thanksgiving


Sam ist spät ins Bett gekommen. Er schnarcht. Das ist gut. Ich habe seinen Schlaf in den vergangenen sechs Wochen genau beobachtet und heimlich getestet, und das zu unterschiedlichen Zeiten in der Nacht. Lautes Husten weckt ihn nicht, leicht gegen die Badezimmertür treten auch nicht, mehrmaliges Herumwälzen im Bett manchmal.

Wenn Sam wach wurde, war er jedes Mal sehr, sehr wütend über die Störung seiner Nachtruhe. Manchmal konnte er nicht wieder einschlafen, weil er nicht fassen konnte, was für ein selbstsüchtiger Mensch ich bin, der nicht weiß, was Rücksicht bedeutet. Als ich einmal um 1:45 Uhr etwas lauter gegen die Tür getreten hatte, setzte er sich mit einem Ruck auf. Er packte mich und zerrte mich am Arm durch das Zimmer, zerriss mein Nachthemd, schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass ich mit dem Kopf gegen die Wand stieß, und schloss mich für den Rest der Nacht im Kleiderschrank ein.

Morgen ist Thanksgiving, mein Lieblingsfeiertag, ich werte das als gutes Zeichen. Heute Nacht bin ich weg.

Beschlossen habe ich das vor sechs Wochen. Wir hatten keine Milch mehr. Das war gedankenlos von mir, denn gegen zwei Uhr nachts wollte Sam Cornflakes, aber bestimmt nicht ohne Milch. Und weil er seine Wut darüber nicht ausdrücken konnte, ohne die Nachbarn zu wecken, presste er seine Faust gegen den Kühlschrank. Heftig schnaufend und mit rotem Gesicht, weil er sich innerlich so sehr bremsen musste.

Dann griff er in meine Haare, riss meinen Kopf nach unten, nahm eines der scharfen Messer aus der Schublade und drückte es an meinen Hals. Ich konzentrierte mich auf das Muster des Küchenfußbodens und verhielt mich vollkommen ruhig. Ich weiß, was in solchen Momenten zu tun ist: Sofortige Kooperationsbereitschaft zeigen, nicht bewegen, nichts tun, was als Widerstand gedeutet werden könnte, Fragen umgehend beantworten, möglichst keine Angst zeigen und nicht heulen, auf keinen Fall heulen.

Er rüttelte an meinem Kopf, was das Messerin meinen Hals drückte, sodass ich spürte, wie mein warmes Blut in den Kragen lief. Ich wusste nicht, wie viel Kontrolle er noch übe