: Marie-Luise Wolff
: Die Unbeirrbare Das abenteuerliche Leben der Madame Cliquot
: Edition W
: 9783949671555
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Über Unternehmerinnen im 18. Jahrhundert weiß man so gut wie nichts. Die Unbeirrbare erzählt die Geschichte einer Frau im Frankreich jener Zeit in einer Ära politischer Umstürze, in der Frauen weitgehend rechtlos und im öffentlichen Leben unsichtbar waren. In dieser Atmosphäre wächst Nicole Clicquot-Ponsardin auf. Trotzt allen Schlägen des Schicksals, setzt sie zweimal alles aufs Spiel und errichtet mit ihrer Beharrlichkeit und Kraft ein Unternehmen, das bis heute existiert und floriert. Marie-Luise Wolffs spannender historischer Roman ist eine Hommage an eine Frau, die vor mehr als 200 Jahren mutig ihren Weg zur Selbstverwirklichung beschritten hat. Marie-Luise Wolff: 'Natürlich präsentiere ich hier meine eigene Version der Geschichte einer faszinierenden Frau und schaue auf sie aus dem Blickwinkel meiner eigenen Erfahrungen als Unternehmerin.'

Marie-Luise Wolff, geboren 1958, Studium der Anglistik und Musikwissenschaft, arbeitete in leitender Funktion in vielen bedeutenden Unternehmen (wie der Bayer AG, bei SONY und E.ON). Seit 2013 ist sie Vorstandsvorsitzende der ENTEGA AG sowie seit 2018 Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Bei Westend erschien 2020"Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung". Marie-Luise Wolff lebt in Darmstadt und Köln.

Gefangennahme


REIMS, Sommer 1789

»Und jetzt, komm mit.«

Stumm, angstvoll, gelähmt, lässt sie sich auf dem Vorplatz der Abtei Saint-Pierre-les-Dames in eine Nische bugsieren. Nicole wendet ihren Kopf zur Seite und richtet den Blick auf ihre Freundinnen – drei, vier Mädchen, die sich noch in der Nähe der Eingangspforte der Schule aufhalten. Sie versucht, ihre Augen scharf zu stellen auf Mathilde, als könnte die Freundin zu ihr herüber kommen und ihr helfen.

»Schau da nicht hin, Nicole«, zischt jemand von oben.

Sie wendet ihren Kopf zurück, blickt hinauf zu der Frau, die zu ihr spricht und sie fest am Arm hält. Sie nimmt ihr großes Kinn wahr, ihre müden Augen, ist irritiert über ihre Bauerntracht, ihr offenes Haar, ihre ungepflegte Erscheinung und über die ungewöhnliche Ruppigkeit, mit der sie ihr Befehle erteilt, sie vor sich her treibt, als wäre sie ein Stück Vieh.

Alles das ist neu.

Nicole Ponsardin ist elf Jahre alt und die Frau, die sie in dieser Weise gängelt, eine Schneiderin in den Diensten der Familie. Direkt vor dem Eingang zur königlichen Mädchenschule hat sie sie abgefangen, gerade in dem Augenblick, als Nicole nach der väterlichen Kutsche Ausschau hält, von der sie erwartet, wie an jedem anderen Tag der Woche, genau hier abgeholt zu werden. Warum kommt die Kutsche nicht? Auch nicht, als sie sich noch einmal gründlich nach ihr umsieht? Alles ist in diesen Wochen möglich. Entführung, Erpressung, Putsch, oder aber: Nichts davon. Ihr Vater hat sie vorgewarnt. Keine Zeit für Fragen verlieren, hat er ihr eingeschärft. Ein Pulk von Mitschülerinnen steht um sie herum, als die Schneiderin erscheint und sie herauswinkt. Hat ihr Vater sie wirklich geschickt? Aber warum jetzt? Warum genau heute? Was will sie von ihr, sie, die sonst die Schneiderin ihrer Mutter ist? Widerwillig und skeptisch wartet Nicole auf eine Erklärung.

»Du ziehst das jetzt an,« sagt die Schneiderin, die Elise Le Compes heißt.

Sie hält ihr ein gefaltetes Stück Stoff vor die Augen, so nah, dass Nicole nichts davon erkennen kann. Sie klingt erregt, ungeduldig, sieht verärgert aus, denkt Nicole, oder angespannt. Während sie sich langsam vom Schultor entfernen, prüft sie mit umherschweifendem Blick, ob sich ihnen jemand nähert. Die beiden Frauen befinden sich jetzt an der Seite der mächtigen Klosterbasilika. Hellgelber Sandstein, vor Jahrhunderten dem heiligen Petrus geweiht. Saint-Pierre ist die kleine, die zweite gotische Basilika von Reims, deutlich älter und weniger spektakulär als die Notre Dame-Kathedrale, hat jedoch ebenfalls zwei gedrungene Türme und jene typisch opulente Fensterrosette in der Mitte der Fassade. Direkt neben Saint-Pierre liegt das unscheinbare Frauenkloster, christlich-katholisch, mit Schulbetrieb, begehrt für die Erziehung höherer Töchter, reserviert für die behüteten Mädchen adeliger oder auf anderen Wegen zu Einfluss und Reichtum gelangter Eltern. Nicht nur aus den Departements der Champagne strömen die Töchter herbei, um diese Schule zu besuchen. Das Kloster wird die Revolution nicht überleben.

In der Krönungsstadt der französischen Könige stinkt es unangenehm in diesen heißen hochsommerlichen Tagen im Juli 1789. Und vor den Toren der Kirche ist es mit der Ruhe und Beschaulichkeit früherer Jahre vorbei. Massenweise Bettler halten sich dort a