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Irmi sah den roten Punkt, oder besser: Etwas in ihrem Unterbewusstsein nahm ihn wahr. Sie war angestrengt vom Gespräch der Männer, vom stetig dahinplätschernden Vortrag dieses Herrn Kluge. Er störte sie zunehmend, denn sie wollte in sich hineinhorchen, in die Stille hineinspüren, schließlich ging es um nichts Geringeres als ihre Zukunft. Aber in diesem Wortgeprassel war das kaum möglich.
Der rote Punkt erinnerte sie an den Laserpointer für Katzen, den sie mal ausprobiert hatte. Die beiden Kater waren völlig aus dem Häuschen gewesen, dabei war so ein Laserpointer im Grunde ein fieses Spielzeug, denn man jagte und jagte und jagte und kam zu keinem Erfolg. Eine Beschreibung, die auch auf die vergangenen Wochen in Irmis Leben gepasst hätte. Sie und der Hase waren von Haus zu Haus, von Hof zu Hof gejagt.
Der rote Punkt bewegte sich hektisch, und Irmi blickte durchs offene Fenster in die Richtung, aus der er kommen musste. Im Graublau des Himmels nahm sie eine merkwürdig wischende Bewegung wahr. Irmi machte einen Schritt auf den Hasen zu, wollte etwas sagen. In dem Moment fiel ein Schuss. Der Mann neben ihr sackte zu einem laschen Bündel zusammen.
Irmi stürzte zu ihm. Sein Hemd war blutig, eine Kugel schien die Herzgegend getroffen zu haben. Auch der Hase war sofort da und versuchte, die Wunde zuzuhalten. Irmi stürmte nach draußen und rief den Notarzt. Das Wort »Schussverletzung« wurde vom Wind verzerrt und über den Auerberg getragen. Schnelle Wolken formierten sich und lösten sich wieder auf. Als Irmi wieder hineinging, schloss der Hase gerade die Augen des Mannes. Er sah auf, schüttelte den Kopf. Der Mann war binnen weniger Minuten verstorben.
»Weg vom Fenster«, sagte der Hase mit fester Stimme und schob die beiden anderen Männer in Richtung der offenen Küche, wo sie fassungslos und paralysiert stehen blieben. Irmi sah hinaus, der Februarhimmel spielte weiter Farbmalkasten in Hellgrau und Dunkelgrau. Ab und zu gaukelten unregelmäßige blaue Flecken vor, dass das Wetter noch schön werden könnte. Währenddessen kam die Wahrheit in aller Härte bei ihnen an: Soeben war einer aus ihrer Mitte erschossen worden. Mitten ins Herz.
Der Hase war neben Irmi getreten. »Du solltest Weilheim anrufen.«
»Mach ich gleich. Wo kam der Schuss her? Hier ist überall offenes Gelände. Keine Gebäude und nichts, wo man erhöht stehen könnte.«
Der Hase sah sich um. »Hast du irgendwas bemerkt? Ich meine, vor dem Schuss?«
»Da war ein roter Punkt am Himmel und eine Art Wischer, klingt blöde, ich weiß.«
»Nein, gar nicht. Ich würde nach dem ersten Augenschein auch sagen, der Schuss kam von schräg oben.«
»Ja gut, aber woher genau?«
»Drohne«, meinte der Hase lakonisch.
Irmi starrte ihn an. »Eine Drohne? Hier am Arsch der Welt gibt es einen Drohnenpiloten, der so versiert ist, dass er einen Mann erschießen kann. So kaltblütig?«
»Ich befürchte, ja.«
Eigentlich waren sie ganz privat hier gewesen, doch nun steckten sie mitten in einem Mordfall. Irmi hasste das Wort »eigentlich«. Denn eigentlich hätte das hier eine Besichtigung werden sollen. Die Besichtigung eines Bauernhofs hier am Auerberg.
Irmi und der Hase hatten schon bald feststellen müssen, dass es im Werdenfels, im Raum Murnau, einfach keine Immobilien mehr gab. Der Markt war leer gefegt. In diesen Zeiten, in denen Negativzinsen drohten, in denen es niemanden und nichts gab, dem man eine Geldanlage anvertraut hätte, und der Sparstrumpf oder das Geld im Eisenkastl auf dem Speicher auch keine hundertprozentige Option war, kauften die Leute Grund und Boden und alles, was ansatzweise ein Haus war.
Erschwerend kam hinzu, dass Irmi Platz haben wollte ums Haus. Ein paar Hektar sollten es schon sein. Lange Zeit war ihr nicht bewusst gewesen, in welchem Luxus sie bisher gelebt hatte. Ihre Heimat Schwaigen war ein Unikum, ein Juwel, ein Ort, der ein wenig aus der Zeit gefallen war. Der Asphaltweg endete vor dem Mangoldhof, wo Vögel in Wasserpfützen badeten und Rehe in samtiger Dämmerung aus dem Wald traten.
Da waren ihre Kater, die vergeblich im Boden herumbuddelten, um die Maus zu erwischen, und angewidert ihre erdigen schwarzen Pfoten schüttelten. Da waren die Jungviecher auf der Weide, die himmelhoch buckeln konnten. Die Berge, die mit den Wolken flirteten. All diese Ausblicke, Seitenblicke, Seelenblicke. Der erste Kaffee im Morgenlicht auf dem Hausbankerl, ein Bier im Abendrot. Die Luft, von Moor und Wald gereinigt, konnte man auf der Zunge schmecken. All das war purer Luxus.
Als sie zusammen mit Fridtjof begonnen hatte, ganz unverbindlich Häuser anzusehen, hatte Irmi zum ersten Mal den Verlust ihrer Heimat gespürt. In der Dachterrassenwohnung im Haus des Hasen war das nur eine vage Ahnung gewesen, denn Irmi hatte sie immer nur als Übergangslösung gedacht. Aber nun sollte es ja ernst werden. War der Mangoldhof in Schwaigen endgültig Geschichte für sie?
Erst jetzt hatte Irmi nachgelesen, woher der Name der Ortschaft stammte. Die sogenannten Schwaigen wurden ursprünglich als Lehen vergeben. Auf solchen Höfen betrieb man Milchwirtschaft und musste jährlich eine bestimmte Anzahl von Käselaiben an den Grundherrn abgeben. Die uralte Siedlungsgeschichte, die verstreuten Höfe ihrer Heimatgemeinde