: Anja Wedershoven
: Schürfwunden. Ein Tagebau-Roman
: Acabus Verlag
: 9783862821594
: 1
: CHF 4.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Wo bin ich zu Hause? An einem Ort? Bei den Menschen, die ich liebe? Was passiert, wenn ich beides verliere? Drei Kinder, eine Halbtagsstelle und die tyrannische Schwiegermutter im Haus. Nicht, dass Katja nicht schon genug Stress hätte. Doch als sie sich in den jungen Jens verliebt, gerät ihr Leben endgültig aus den Fugen. Unterstützung findet Katja bei ihrer hinfälligen, aber eigensinnigen Großmutter Charlotte. Diese kämpft seit Jahren gegen den Verlust ihres Hauses durch den Tagebau. Jetzt droht ihr die Enteignung. In der Krise entwickelt sich zwischen den so unterschiedlichen Frauen eine ungewöhnliche Freundschaft. 'Jedes Mal, wenn ich das Haus meiner Großmutter betrete, überfällt mich sein Geruch schon im Flur. Ein Geruch nach feuchtem Gemäuer, staubgetränkter Luft und Kölnisch Wasser. Nach Filterkaffee, nach Lavendelsäckchen, nach Alter. Der Geruch meiner Großmutter.'

Anja Wedershoven, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet am Niederrhein. Neben ihrer journalistischen Arbeit schreibt sie - 'seit ich schreiben kann' - eigene Texte. Dabei sind ihr Figuren und Sprache besonders wichtig. Und die Erkenntnis, dass sich auch das eigene Schreiben immer wieder verändert und (hoffentlich) weiterentwickelt. Nach Veröffentlichungen in Anthologien und kleineren Literaturpreisen ist 'Schürfwunden' ihr erster Roman. Die Familien- und Emanzipationsgeschichte spielt vor dem Hintergrund des Braunkohletagebaus und erzählt von Verlusten und Wandlungen im Leben zweier Frauen.
Aus Kapitel 1: Je weiter Katja ins Tagebaugebiet fuhr, desto staubiger wurden die Straßen. Seit Wochen kaum Regen. Nur kurze Gewittergüsse, die verdunstet waren, noch bevor sich die Wolken verzogen hatten. Sie kurbelte ihr Autofenster wieder hoch, obwohl die Septembersonne den Wagen aufgeheizt hatte. Keine gute Idee, mit ihrer Großmutter zum Abriss der Kirche zu gehen. In den letzten Monaten war Charlotte immer magerer und gebrechlicher geworden. Wie ein aus dem Nest gefallenes Vogeljunges, dachte Katja. Die körperliche Schwäche hatte die Sturheit ihrer Großmutter nicht gemildert. Dass sie ihr Haus nicht verlassen wollte, obwohl alle anderen weggezogen waren, war typisch für sie. Dabei wurde ihr Husten durch den Kohlestaub mit jedem Tag schlimmer. 'Irgendwann werden sie enteignen', hatte Katjas Mann über die allmählich zu Neige gehende Geduld der Braunkohlegesellschaft gesagt. Damit hatte Robert wohl recht. Robert hatte meistens recht. Seit er Richter am Oberlandesgericht geworden war, hatte er noch häufiger recht. Katja verscheuchte den Gedanken und schaltete das Autoradio ein. Eigensinnige Frauen waren halt nicht Roberts Ding. Er mochte Charlotte noch nie. Die Landstraße wurde in diesem Gebiet kaum noch befahren. Nur Schaulustige und ehemalige Bewohner der verlassenen Dörfer verirrten sich hierher. Bröckelnder Asphalt. Von Unkraut überwucherte Leitplanken. Der Renault ruckelte über einige Haufen Schotter, die ein Lastwagen verloren haben musste. Hinter der Kurve kam Katja ein Radfahrer entgegen. Sie schaltete einen Gang herunter und fuhr mit größtmöglichem Abstand an dem alten Mann mit Schirmmütze vorbei. Dennoch hüllte ihn eine Staubwolke ein. Im Rückspiegel sah sie, dass er abgestiegen war und wild gestikulierte. 'Tut mir leid', murmelte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter den Song im Radio mischte sich der Klingelton ihres Handys. Charlotte. Sie wartete vermutlich schon. 'Hallo Omi, ich bin in fünf Minuten bei dir. Geht's dir gut?' 'Mir geht et immer gut.' Im Innenraum des Wagens klang das Brüchige in ihrer Stimme noch besorgniserregender, als wenn man ihr gegenübersaß. 'Sicher?' 'Sicher.' Charlotte hustete. 'Hast du genug getrunken? Es ist schwül heute, du musst viel trinken.' 'Liebet Kind, ich bin zwar alt, aber noch nich' senil.' 'Das habe ich ja auch nicht behauptet. Aber es wäre vernünftiger, du würdest zu Hause bleiben. Wir könnten zusammen Patiencen legen.' 'Du glaubst, ich leg hier seelenruhig Patiencen, während dat Gesocks unsre Kirche abreißt?' Katja musste grinsen. 'Nein. Nicht wirklich. Aber es wird nichts ändern, ob du protestierst oder nicht. Ob du dein Plakat in die Luft hältst oder nicht.' Charlotte schwieg. 'Bist du noch dran, Omi?' Ein Räuspern antwortete ihr. 'Aber ich will mein Plakat inne Luft halten.' Dann legte ihre Großmutter auf. * Charlotte legte das Telefon auf den Wohnzimmertisch und lehnte sich im Sessel zurück. Diese ewige Müdigkeit! Seit gut zwei Jahren kämpfte sie nun schon dagegen an. Sie strich die Bluse glatt, die um ihren Oberkörper schlabberte. Ein Gürtel. Sie wollte doch noch einen Gürtel raussuchen. Am Morgen hatte sie sich vor dem improvisierten Spiegel in der Küche ihre von Natur aus wild abstehenden grauen Locken noch weiter hochtoupiert und ein rotes Band hineingebunden. Dazu die rote Bluse angezogen, die sie immer trug, wenn sie gegen die Umsiedlung ihrer Dörfer protestierte. Vor zwei Jahren hatte die noch tadellos gesessen. Aber jetzt ... Auch ihre Büstenhalter waren viel zu weit geworden und Charlotte hatte sich angewöhnt, eine elastische Binde über ihren Brustkorb zu streifen, wenn sie außer Haus musste. Damit sah sie fast wie ein Knabe aus. 'Mach mir keine Sperenzkes mit die jungen Mädels', hatte sie zu ihrem Spiegelbild gesagt und gekichert. [...]