: Catalina Aguilar Mastretta
: Alle Tage, die uns gehören Roman
: Piper Verlag
: 9783492601740
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 452
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nach zehn Jahren trennen sich Maria und Emiliano. Ihre Liebe sollte für immer sein. Doch was hat sie auseinandergebracht? Ein Seitensprung? Unterschiedliche Erwartungen? Der Alltag? Oder war es noch etwas ganz anderes? Eine Geschichte, die nahegeht, die Fragen aufwirft, mal für große Heiterkeit, mal für ein trauriges Lächeln sorgt. Und die am Ende in einen Anfang mündet ...

Catalina Aguilar Mastretta wurde 1984 in Mexiko City geboren und ist heute Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Als Tochter der berühmten Autoren Ángeles Mastretta und Héctor Aguilar Camín kam sie schon früh mit der Welt der Literatur in Kontakt und hat das Talent zum Schreiben offenbar geerbt. Alle Tage, die uns gehören ist ihr erster Roman, der von der Kritik für seine ironische, gefühlvolle und generationentypische Perspektive hymnisch gefeiert wurde.

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Jahre früher, am Tag, als Das Endgültige Aus kam

Ich kam zu spät und ungekämmt ins Büro.

»Dein Telefon klingelt schon die ganze Zeit«, informierte mich Salvador, der so nett ist, jemanden darauf hinzuweisen, wenn sein Telefon in seiner Abwesenheit klingelt, aber ich hasse ihn, weil er am Nachmittag, wenn er sich langweilt, ständig gegen die Abtrennung zwischen unseren Schreibtischen tritt wie ein Kind im Flugzeug gegen den Sitz des Vordermanns.

Ich hörte meine Nachrichten ab. Eine von meiner Mutter: »Wie kannst du einfach so verschwinden, ohne etwas zu sagen und ohne Frühstück? Das ist doch keine Art!« Ich war eine schlechte Tochter. Die nächste Nachricht – und ich war eine schlechte Freundin. Denn die nächsten drei Nachrichten waren von Paloma: »Wann seid ihr gestern gegangen? Melde dich.« »Wann kommst du endlich zur Arbeit? Melde dich.« »Wann meldest du dich endlich?«

In der Geschichte dieses Beziehungsaus würde es noch viele Sorgen geben, so wie allein sterben, den Mann seines Lebens verlieren oder den Rest seines Lebens über bereuen, was eines Samstags um drei Uhr morgens geschah, als ich dreißig Jahre alt war. All das waren ziemlich komplexe Sorgen, doch die, die sich auf die nähere Zukunft bezogen, waren die schlimmsten: Was würde ich an meinem ersten Sonntag als Single tun? Würde ich jemals wieder zu dem Chinesen im Parque Nápoles essen gehen, und was sollte ich mit den Resten machen, wenn ich all das leckere Essen nur für eine Person bestellte? Wie sollte ich jemals Palomas Erwartungen erfüllen? Paloma war die Freundin von Francisco, der wiederum Emilianos Bruder war. Und nein, die Namen wurden nicht aus revolutionären Gründen gewählt. Señora Sandra, der Mutter der beiden, konnte man vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie eine Revolutionärin wäre. Sie hatte ihren ältesten Sohn nach ihrem Großvater Emiliano genannt und ihren zweiten Sohn Francisco nach ihrem Vater. Und sie wurde beinah ohnmächtig, als ihre Söhne sich im Kindergarten für den Revolutionstag mit Patronengurten und Schnurrbärten als Pancho Villa und Emiliano Zapata verkleiden sollten. Dabei hatte sie so sehr gehofft, ihre Kinder hübsch anziehen zu können. Und nun musste sie die Jungen wie die in ihren Augen ärmsten Schlucker der mexikanischen Geschichte ausstaffieren.

Pancho – wie Paloma ihren Liebsten nannte, um Señora Sandra zu ärgern – war seit vier Jahren mit Paloma zusammen, weniger als halb so lange wie Emiliano und ich, was dazu führte, dass Paloma uns als Vorbild ansah. Nur dass Paloma und Pancho das eigentlich vorzeigbare Paar der Familie waren. Sie hatten sich in Harvard kennengelernt – ja, richtig gehört –, an der Harvard University. Es war wohl so, dass sie in irgendeinem uralten Gebäude auf der Treppe gestolpert war, in dem auch schon Theodore Roosevelt, Bill Gates und Natalie Portman gestolpert waren, wenn ich mich recht erinnere, aber die Geschichte im Detail zu erzählen wäre viel zu langweilig. Jedenfalls hatten sie sich dort kennengelernt, und beide hatten auf der Stelle gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren. Dabei waren sie ganz nah beieinander aufgewachsen, um sich dann an einem Ort kennenzulernen, an den man nur mit größter Mühe gelangte.

Dass Paloma und ich Freundinnen wurden, lag einmal an der unvermeidlichen Nähe, aber auch daran, dass sie wirklich sympathisch ist und sich trotz ihrer Harvard-Intelligenz eine gewisse Leichtlebigkeit bewahrt hat, die sie einfach unwiderstehlich macht. Paloma hatte darauf bestanden, dass wir uns im Kampf gegen Señora Sandra zusammentaten. Dabei war unsere Situation nicht wirklich vergleichbar, da Señora Sandra Paloma anbetete, welche Señora Sandra wiederum vor allem deswegen hasste, um dem Bild der genervten Schwiegertochter zu entsprechen, wie sie es aus den Karikaturen ihrer Kindheit kannte. Während die Tatsache, dass der ältere Sohn mit mir zusammen war und nichts Reizvolleres zu bieten hatte, für die Familie eine echte Enttäuschung war. Ich hatte also gar keine andere Wahl, als Señora Sandra allein aus Gründen der Selbstverteidigung zu hassen.

»Also jetzt bin ich echt sauer auf meine Therapeutin«, sagte Paloma, ohne mich zu begrüßen, als sie mich schließlich am Telefon hatte. »Ich habe ihr erzählt, dass ich heiraten möchte, so ganz nebenbei, irgendwann demnächst, und zwar Pancho. Und sie wollte wissen, warum ich die Vorstellungen meiner Mutter übernehme. Da bin ich auf eine echte Kampfemanze gestoßen, stell dir vor, und plötzlich erwachte in mir der unbändige Wunsch, tatsächlich zu heiraten. ›Ja, ich will heiraten‹, hab ich ihr gesagt, ›ich will heiraten, denn das ist das Einzige, was mich glücklich macht!‹ Schon während ich es aussprach, dachte ich: Ich glaube, das stimmt so nicht. Ehrlich gesagt, ist das nicht ganz die Wahrheit, weil viele andere Dinge mich auch glücklich machen würden. Aber ich konnte die alte Kuh die Diskussion doch nicht gewinnen lassen. Wenn ich ihr schon von meinem Privatleben erzähle.«

»Na ja, wenn du heiraten willst, dann heirate doch, meine Liebe«, entgegnete ich, damit sie mal Luft holen konnte.

»Soll ich auf die Knie gehen und mir den Ring selbst anstecken? Ich bin doch nicht du.«

»Ich habe mir keinen Ring angesteckt.«

»Daran ist nur die blöde Señora Sandra schuld, die Pancho den Ring von der Urgroßmutter nicht geben will, weil ihn nur jemand aus der Familie bekommen soll.«

»Du wirst den Ring von der Urgroßmutter bekommen, keine Sorge.«

»Du hast leicht reden, du bist ja schon so gut wie verheiratet und brauchst keinen Ring. Aber ich muss einfach wissen, ob Pancho der Vater meiner Kinder sein wird, verstehst du? Darüber wollte ich mit meiner Psychologin reden, bevor sie mit den Vorstellungen meiner Mutter anfing. Bei dir ist das anders – du weißt schon, dass Emiliano der Vater deiner Kinder sein wird, ihr seid euch da einig. Aber mein kleines Dickerchen macht es mir echt schwer.«

Pancho hatte höchstens drei Kilo Übergewicht, aber es machte Paloma einen Riesenspaß, ihn »mein kleines Dickerchen« zu nennen.

»Ich glaube nicht, dass Emiliano der Vater meiner Kinder sein wird.«

»Ja, ja, welche Kinder, ich weiß schon. Das war nicht wörtlich gemeint.«

»Emiliano ist weg«, sagte ich zum ersten Mal. Und das war wortwörtlich gemeint. Paloma zählte leise bis fünf; so hatte ihre Großmutter es ihr beigebracht: Wenn sie nicht wusste, was sie sagen sollte, leise bis fünf zählen, damit sie nicht irgendeinen Blödsinn von sich gab.

»Wohin?«, fragte sie schließlich.

»Na ja, zurück nach Hause«, klärte ich sie auf. »Also zurück zu seiner Mutter.«

 

Es war schon seit einer Woche vorbei, aber ausgezogen war Emiliano erst am Morgen des Vortages. Wir kamen von einer Kostümparty, was ziemlich gut passte, da wir ja vorgeben wollten, etwas zu sein, was wir nicht waren. Glücklich zum Beispiel. Da kamen Maske und Umhang gerade recht. Emiliano war als Darth Vader verkleidet, mit einem schwarzen Samtumhang und einem Helm, in dem er kaum atmen konnte.

»Erstickend«, meinte er mit einem Grinsen, »so habe ich das Gefühl, dass du bei mir bist, auch wenn du gar nicht da bist.«

Ich hatte mich in einen Catwoman-Anzug gezwängt, was uns immerhin zu einer angenehmen Viertelstunde auf dem ansonsten trostlosen Fest verhalf. Emiliano hatte sich plötzlich nach körperlicher Nähe gesehnt und mich ins Schlafzimmer der armen Gastgeberin geschleppt, um mich aus dem schwarzen Plastik-Suit zu befreien, der wie ein Aufkleber an mir haftete. Was das anging, stimmte die Chemie zwischen uns, das zählte nicht zu unseren vielen nicht greifbaren Problemen. Seit fast zehn Jahren rissen wir uns bei der ersten Gelegenheit die Kleider vom Leib, und seit fast neun Jahren taten wir dies in unserer gemeinsamen Wohnung und unserem gemeinsamen Bett, was ein deutlicher logistischer Vorteil war. Jedenfalls suchten wir immer mal wieder nach einem diskreten Winkel, um uns gegenseitig zu berühren, als ob wir vertrockneten, wenn wir es nicht tun würden. Wir waren so scharf aufeinander, dass es beinah verdächtig war; als ob wir zu den Leuten gehörten, die Palomas Großmutter als »nicht vertrauenswürdig« bezeichnete. Als ob es höhere Gewalt wäre, dass wir nicht voneinander lassen konnten, mit den Handabdrücken des anderen auf unseren Armen, um daran zu erinnern, zu wem wir gehörten. An jenem Tag jedenfalls...