Erster Teil: In der RHYLINE
Alaska Saedelaere
Sie küsste ihn, und er schreckte hoch. Der Traum zerplatzte, aber als Erstes stellte Alaska Saedelaere fest, dass er gar nicht geschlafen hatte.
Sein Atem strich über die Innenseite der Maske und über sein mit dem neuen Cappinfragment verschmolzenes Gesicht.
Er sah sich um. Dies war die Zentrale der RHYLINE. Eroin Blitzer stand neben ihm, der Zwergandroide, der ihm fast zu einem Freund geworden war. Nur dass Alaska Saedelaere, der Einsame, der Eigenbrötler, so leicht keine Fremden als Freunde annahm.
Wie war er in dieses Schiff gekommen, dessen Name er offensichtlich kannte – RHYLINE? Was war zuletzt geschehen?
Er erinnerte sich nicht daran, weil er sich nicht konzentrieren konnte. Alles verschwamm hinter den Augen der Puppe, aus denen Rauch strömte und die er immer noch vor seinem geistigen Auge sah.
Unwillkürlich hob der Maskenträger die Hand, die Fingerspitzen tasteten über die Lippen.
»Alraska?« Wie jedes Mal nutzte Blitzer die ein wenig verfälschte Form des Vornamens, die er – aus welchen Gründen, hatte Saedelaere nie verstanden – für die richtige hielt. »Was ist mit dir?«
»Hast du etwas an mir bemerkt während ...« Wie lange mochte ergeträumt haben? »Während der letzten Minuten?«, setzte er neu an und ergänzte leise: »Habe ich geschlafen?«
»Geschlafen?« Die Stimme des zwergenhaften Wesens blieb so ausdruckslos wie immer. Die riesigen, kindlich wirkenden Kulleraugen im leicht gelblichen Gesicht schauten scheinbar ins Leere, als wolle der Blick irgendwo im Kosmos verschwinden. »Soll das ein Scherz sein? Wir haben Besseres zu tun, findest du nicht?« Der ausgemergelte Körper des Zwergandroiden reckte sich.
Besseres? Was meinte er damit? Saedelaere wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als die Empfindungen des Traumes – oder was immer es gewesen war – endlich langsam verblassten.
Die Desorientierung wich der Realität, die imaginäre Gestalt der Puppe löste sich nun auch in seinem Verstand und seiner Erinnerung zu Nebelstreifen auf. Die Augen – künstlich, tot und doch so lebendig – verschwanden zuletzt, und in dem Abschiedsblick lag die Verheißung der Wiederkunft:Wir sehen uns wieder, Maskenträger.
Alaska Saedelaere kam in der Zentrale der RHYLINE an, die er nie verlassen hatte. Er stand nur wenige Schritte vom Sessel des Kommandanten entfernt.
Die letzten Erinnerungen an die irrealen Bilder formten sich zu einem halb unbewussten Gedanken:Die Puppe war ein künstliches Wesen, das lebte, und für Eroin Blitzer gilt das gewissermaßen auch. Ein seltsamer Vergleich, der nicht recht passen wollte und der sich doch in Alaskas Überlegungen verhakte. Natürlich basierte die Existenz des Zwergandroiden auf völlig anderen Grundlagen.
Nach Sekunden, in denen Eroin Blitzers große Augen zu ihm aufsahen und er sich selbst als Spiegelung darin erkannte, räumte der Traum endgültig den Platz für die Wirklichkeit. Und diese sah alles andere als gut aus.
In der Zentrale herrschte Stille. Alle starrten das Holo an, das die Ergebnisse der Außenortung in ein Realbild verwandelte und unmissverständlich zeigte, dass die RHYLINE samt ihrer Besatzung am Ende war. Gefangen, festgesetzt und kurz davor, vom Feind geentert zu werden.
Das Holo zeigte die RHYLINE selbst im Zentrum, ein etwas umgebauter escalianischer Kampfraumer mit verlängertem Mittelteil. Schräg dahinter stand die planetengroße Anomalie, ein schwarzes Nichts, geformt wie eine perfekte Kugel, als wäre ein Planet aus der Wirklichkeit herausgerissen worden und nur einLoch im Universum zurückgeblieben.
10.101,3 Kilometer Durchmesser, rechnete Saedelaeres SERUN automatisch die Messdaten um; eine im Grunde völlig unwesentliche Information, die Alaska jedoch deutlich machte, wie unglaublich seine zurückliegenden Erlebnisse waren.
Er war mit der RHYLINE unter dem Kommando des krötenartigen Piloten Rizinze Baro in die Anomalie eingeflogen, die im Inneren um ein Vielfaches größer war als von außen anmessbar – ein Unterschied wie der einer Erbse zur gigantischen Kugel einer Welt. Baro galt als der Einzige, der mithilfe seines modifizierten Schiffs ein solches kosmisches Phänomen anzusteuern und in es einzudringen vermochte.
So waren sie zu fünft aufgebrochen – er selbst und Baro, außerdem der Zwergandroide Eroin Blitzer und zwei besondere Wesen aus dem Reich der Harmonie: Carmydea Yukk, die Enkelin der Herzogin Rhizinza Yukk; und Swift, der sich als Saedelaers Freund in sein Vertrauen eingeschlichen und sich dann als Verräter erwiesen hatte. Swift saß nun in einer Isolationszelle gefangen, und Saedelaere hatte wieder einmal erleben müssen, dass man niemandem –niemandem! – zu leicht sein Vertrauen schenken durfte.
In der Anomalie waren sie auf SIL getroffen, ein Wesen, das dort von der negativen Superintelligenz QIN SHI eingekerkert worden war. Was allerdings beinahe noch erstaunlicher war, war etwas nur allzu Bekanntes: Saedelaere hatte dort ein Beiboot der BASIS entdeckt – einterranisches Schiff, das sich unmöglich im Reich der Harmonie befinden konnte. Und doch war es eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ; ein Rätsel, um das sich Saedelaere würde kümmern müssen, wie auch um die Geheimnisse, die sich um SIL und QIN SHI rankten.
Doch momentan sah es nicht danach aus, als könne ihm dies je gelingen. Denn das Holo zeigte bei Weitem nicht nur die RHYLINE mit der schwarzen Kugel der Anomalie im Hintergrund.
Vielmehr gab es eine ganze Flotte von Raumern aus dem Reich der Harmonie, die die RHYLINE nach ihrer Rückkehr nicht nur abgefangen, sondern auch sofort in ein Fesselfeld eingeschlossen hatte – ein energetischer Strahlbannte ihr Schiff auf der Stelle.
Den Datenblöcken am Rand des Holos zufolge handelte es sich um escalianische Walzenraumer der Vabira-Klasse, wobeiVabira für das WortVerkünder stand – Einheiten, die für die Harmonie eintraten und sie überall im Reich durchsetzten; notfalls mit Gewalt.
Bei einem Durchmesser von 310 Metern maßen sie 1040 Meter in der Länge. Bis auf einige Längskuhlen, die als Andockbuchten für Kleinraumer genutzt werden konnten, war die dunkle blaugraue Hülle völlig glatt.
»Baro!«, rief Carm