KAPITEL EINS
„Wo bleiben diese Crèmes brulées, Allison?“, bellte Russell vom anderen Ende der geschäftigen Küche her. „Tisch fünf wartet immer noch!“
Ali Sweet richtete ihren Blick auf ihren Chef. Sie hasste es, dass er sie immer anbrüllte wie ein Kind. Aber sie konnte wenig dagegen tun. Sie hatte Riesenglück gehabt, diesen begehrten Job in einem der besten französischen Restaurants von Los Angeles zu bekommen. Nicht, dass Ali besonders glücklich gewesen wäre …
Drei Jahre war es her, dass sie hier als Patissière angefangen hatte. Eigentlich war das ihr Traumjob. Sie hatte jahrelang darauf hingearbeitet. Aber dank ihres fiesen Chefs hatte sich ihr Traumjob schnell in einen Albtraum verwaltet.
„Steh da nicht so rum!“, schrie Russell und schnippte mit den Fingern. „Hopp, hopp!“
Mit zögerndem Seufzen ging Ali quer durch die heiße, laute, überfüllte Küche desÉclairs zu den Backöfen. Sie warf ihren dicken, dunkelblonden Zopf über die Schulter und spähte durchs Ofenfenster, um sich die fünfzehnte Ladung Crèmes brulées anzusehen, die sie an diesem Tag hergestellt hatte. Inzwischen hatte sie mehr Crèmes brulées produziert, als es in L. A. Staus gab.
„Sie brauchen noch ein paar Minuten“, rief sie Russell über die Schulter zu.
Russells braune Knopfäuglein blieben zwar auf sein Hackmesser gerichtet, doch Ali bemerkte, dass seine Nasenflügel vor Wut bebten.Noch ein paar Minuten war eindeutig nicht die Antwort gewesen, die er hatte hören wollen, und jetzt würde er gleich explodieren.
Ali wusste, sie würde gleich einen seiner berüchtigten Wutausbrüche abbekommen. Sie schluckte ängstlich. Aber sie konnte dem nicht entkommen. Ali fühlte sich hilflos.
„Noch ein paar Minuten …“, murmelte Russell und schüttelte den dunklen Schopf. Dann rammte er sein Messer ins Schneidbrett, wirbelte zu ihr herum und schrie: „Du hast genau eine Aufgabe, Allison! Eine Aufgabe! Aber nicht mal die kriegst du richtig hin!“
Die Beleidigung traf sie wie eine Ohrfeige. Ali zuckte zurück. Bevor sie diesen Job angetreten hatte, war sie kein Mauerblümchen gewesen, doch dank Russell war sie inzwischen vollkommen verschüchtert.
Keiner der anderen Köche in der überfüllten Küche reagierte auf Russells beleidigenden Ausbruch, aber Ali wusste, dass alle sie aus dem Augenwinkel beobachteten. Sie spürte die Seitenblicke, die sich in sie brannten wie Laserstrahlen. In der Küche desÉclairs gab es keine Verbündeten.
„So… soll ich sie jetzt servieren?“, fragte Ali mit zitternder Stimme. „Sie sind noch nicht ganz durch.“
Sie wusste bereits, dass die AntwortNein lautete, aber Russell hatte sie in eine unmögliche Zwickmühle zwischen Tempo einerseits und Perfektion andererseits gebracht, und irgendetwas musste sich schließlich sagen.
„Natürlich nicht!“, kreischte Russell. „Diese Crème brulée ist für einen wichtigen Menschen aus Hollywood! Sie muss perfekt sein!“
Ali war völlig egal, für wen die Crème brulée war. Sie hätte für den Papst bestimmt sein können, auch das wäre ihr einerlei gewesen. Ali hatte einfach die Schnauze voll.
Plötzlich ließ ein lautes, metallisches Scheppern Ali zusammenzucken. Russell hatte mit einer metallenen Suppenkelle gegen einen der an einem Bord hängenden Töpfe geschlagen.
„Steh da nicht so rum!“, schrie er. „Fang mit dem nächsten Schwung an.“
Ali eilte an ihren Arbeitsplatz und machte sich an die nächste Fuhre Crèmes brulées. Wie ein Roboter ging sie Arbeitsschritt für Arbeitsschritt durch – sie stützte die Vanilleschote auf, kratzte die Samen in die Sahne, schlug das Eigelb mit dem Zucker auf, stellte die Porzellanförmchen ins Wasserbad – und fragte sich dabei die ganze Zeit reumütig, was eigentlich schiefgelaufen war.
Anfangs war sie begeistert gewesen, weil sie den Job im exklusiven RestaurantÉclairs in Silver Lake, Los Angeles bekommen hatte. Da ihr erstklassiger Bachelorabschluss in Kulinarik für ein Sternerestaurant nicht ausgereicht hatte, hatte sie nach dem Abschluss weiter studiert und einen Abschluss in Kulinarischer Innovation gemacht. Weil sie danach immer noch nicht den gewünschten Job hatte bekommen können, hatte sie eine Promotion angefangen und zugleich bei Sternekoch Milo Baptiste eine Lehre gemacht.
Milo war ein inspirierender Lehrmeister gewesen. Seine Leidenschaft für das Kochen war ansteckend. Er wusste alles über Nahrungsmittel. Unter seiner Anleitung hatte Ali zu glauben begonnen, sie sei für Großes bestimmt, von seiner Kochkunst inspiriert wie Ernst Pauer von Wolfgang Amadeus Mozarts Kompositionen. Dank Milo hatte sie eine eigene kulinarische Handschrift entwickelt.
Zuers