Der Fluch des Schlafenden Todes
Königswinter, im Lebkuchenhaus, Oktober 2012
Leises Vogelgezwitscher war durch die geschlossenen Fensterläden des Lebkuchenhauses zu vernehmen. Will öffnete blinzelnd die Augen. Licht drang durch die Ritzen der Schokoladentafeln, welche die Wände bedeckten, und hüllte das Innere des Häuschens in ein trübes Dämmerlicht.
Die Nacht war vorüber und mit ihr auch der Traum, der sich so real angefühlt hatte. Er war Schneewittchen begegnet, die so anders war als ihre blutrünstige Version vom Vortag im Schloss Drachenburg. In seinem Traum war sie ein verzweifeltes Mädchen gewesen, das nach dem Tod seines Vaters allein auf der Welt war. Sie hatte ihn gebeten, ihr zu helfen – er sollte sie aus dem tiefen Schlaf wecken, der sie gefangen hielt.
›Du musst dich daran erinnern, wer du bist. Nur dann wirst du wissen, wie du mich wecken kannst‹, hatte sie als Letztes gesagt.
Aber wer war Will? Er wusste es selbst nicht.
Unbewusst griff er nach dem Medaillon, das an einer silbernen Kette von seinem Hals baumelte. Es war alles, was ihm von der Mutter, die er nie kennengelernt hatte, geblieben war.
Sein ganzes Leben lang hatte er geglaubt, dass er der Sohn eines Wahnsinnigen sei. Ein bemitleidenswertes Objekt, dessen Scheitern bereits feststand. Er hatte seine einzige Chance darin gesehen, eines Tages Berlin den Rücken zu kehren und irgendwo neu anzufangen. Jedoch hatte er sich nicht gerade Mühe in der Schule gegeben, um gute Noten und später einen guten Abschluss zu bekommen. Er hatte akzeptiert, dass er ein Versager war, ohne auch nur zu versuchen, etwas daran zu ändern.
Die Aussicht, dass er in Wahrheit mehr als das war, erschien ihm verlockend. Zu verlockend, um wahr zu sein?
Es war der Traum eines jeden Waisenkindes, dass es dort draußen irgendwo eine Familie gab, die nach einem suchte, und alles nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle war. Doch für die meisten zerplatzte dieser Traum wie eine Seifenblase, wenn sie erwachsen wurden und erkannten, dass die Welt kein märchenhafter Ort war, an dem Wunder möglich waren. Sie sahen sich stattdessen der harten und ungeschönten Realität gegenüber, in der sich jeder selbst der Nächste war.
Will hatte sich für einen pessimistischen Realisten gehalten. Wenn man nichts von der Welt erwartete, konnte man auch nicht von ihr enttäuscht werden. Doch dieser seltsame Traum hatte irgendetwas in ihm verändert. Es war ein Gefühl, das er nicht benennen konnte. Als wäre in seinem Inneren eine Glocke geläutet worden, deren Klang immer noch nachhallte.
Er dachte an Schneewittchens himmelblaue Augen – sie hatte ihn angesehen, als würde sie ihn wirklich kennen. Vielleicht sogar besser als er sich selbst.
»Woran denkst du?«, riss Maggys Stimme ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Sie hatte sich aufgesetzt und streckte sich müde, wobei ihr Nacken ein leises Knacken von sich gab und sie leidend das Gesicht verzog. »Noch eine Nacht auf dem Boden stehe ich nicht durch«, jammerte sie und schielte missmutig zu ihrem Bruder Joe, der mit geschlossenen Augen auf dem einzigen Bett im Raum lag.
Will war sich jedoch ziemlich sicher, dass er nicht mehr schlief – sein Schnarchen fehlte.
»Was machen wir jetzt?«, wollte er wissen, ohne auf Maggys Frage einzugehen. Er wollte ihr nicht