ERSTES KAPITEL
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Nevilles Geburtstag
Neville erwachte an ihrem Geburtstagsmorgen um fünf (die Stunde der Natur, nicht die der Menschen) aus dem träumerischen Schlaf anbrechender Sommertage, erhitzt von der Last zweier Laken und einer Decke, geweckt vom vielfachen hellen Rufen einer Welt voller Vögel. Schrill und melodisch erklangen sie rund um das überwachsene Haus wie hundert Bäche, die nach der Schneeschmelze steile Runsen hinunterschießen. Und ungleich jedem Bach und auch jedem Vogel und überhaupt jedem Ding auf der Welt außer einer Kuckucksuhr, rief unbeirrt in den Ästen der großen Ulme auf der anderen Seite des silberglänzenden Rasens ein Kuckuck.
Neville drehte sich um, legte ihr kleines Gesicht in die sonnengebräunten Hände und schaute verschlafen hinaus. Die prickelnde Freude des jungen Tags erfasste sie, als sie sie durch das offene Fenster einsog. Sie erschauderte verzückt, als ein kalter Hauch sich ihr auf die Blöße von Hals und Brust legte, und sie vergaß die rastlose Geburtstagsbitterkeit der Nacht; vergaß, wie sie wachgelegen und gedacht hatte: »Wieder ein Jahr vorbei und noch nichts zustande gebracht. Bald werden alle Jahre vorbei sein, ohne dass je etwas zustande gebracht wurde.« Vonihr zustande gebracht, meinte sie natürlich, wie alle wissen, die sich mit Geburtstagen auskennen. Aber was ›etwas‹ war und was ›nichts‹, wussten weder sie noch andere Geburtstagskinder angemessen zu benennen. Sie haben gelebt, sie haben gegessen, getrunken, geliebt, gebadet, gelitten, geplaudert, getanzt in der Nacht und gejubelt in der Früh und sich eigentlich beide Hände am Feuer des Lebens gewärmt, und doch sind sie noch nicht bereit, abzutreten, denn sie hecheln der Zeit hinterher, sind besessen von so vielen Welten und so vielen Tätigkeiten: das Geleistete winzig, das noch Ausstehende riesig.
Dies bedrückte Milton einst, als er dreiundzwanzig wurde, und es bedrückt jeden eitlen und ehrgeizigen Menschen mindestens einmal im Jahr. Manche nennen es Reue um verschwendete Tage und sind stolz darauf, andere nennen es Eitelkeit, Unzufriedenheit oder Gier und schämen sich deswegen. Doch ob so oder so – es spielt keine Rolle.
Neville streifte all diese Gedanken leichthin ab mit den Laken, sprang aus dem Bett und schlüpfte in Strandschuhe, warf sich einen großen Mantel über ihren schmalen, drahtigen Körper, trat leise auf den Flur, wo hinter drei geschlossenen Türen Rodney, Gerda und Kay schliefen, und stahl sich die Hintertreppe in die halbdunkle Küche hinunter, die hinter den Jalousien porzellanblau und morgenblass schimmerte. Sie machte sich eine Tasse Tee auf dem Gaskocher. Auch Brot und Marmelade nahm sie aus der Speisekammer und bestrich zwei dicke Schnitten damit, mampfte die eine und entschwand aus dem schlafenden Haus in den verwilderten Garten.
Neville blickte zu Gerdas Schlafzimmerfenster auf, das im Geißblatt ertrank, und hätte beinahe den Pfiff ertönen lassen, auf den Gerda üblicherweise antwortete. Beinahe, aber dann doch nicht. Alles in allem war es ein Morgen wie zum Alleinsein gemacht. Zudem wollte Neville eine Weile nichts mehr von Geburtstagen wissen, und Gerda hätte sie daran erinnert.
Sie ging über den Hof, um stattdessen Esau zu holen, der sie nicht daran erinnern würde und dessen überschäumende Freude sie mit einer mahnenden Geste dämpfte.
Über den feuchten, silbrigen Rasen schlenderte sie, zwischen den riesenhaften Schatten der Ulmen, ihre Füße in den alten Strandschuhen hinterließen dunkle Spuren im Tau, ihr Mund war voll Marmeladenbrot, der schwarze Zopf hüpfte auf ihren Schultern, und Esau tollte um sie herum. Über den Rasen weiter zum Wald, kühl und dämmrig auch er, aber nicht still, denn er widerhallte von Musik und raschelte vo