Das Schrillen des Telefons riss Jennifer Demesy aus dem Schlaf. Mit gequältem Stöhnen tastete sie nach dem Hörer auf dem Nachttisch und meldete sich kaum hörbar.
„Bonjour, Jenni, tut mir leid, dass ich dich wecke“, vernahm sie die Stimme ihres Kollegen Christophe von der Pariser Kriminalpolizei. „In der Seine wurde heute früh eine Leiche gefunden. Sie holen sie gerade raus. Bitte komm so schnell du kannst. Spurensicherung und Rechtsmediziner sind bereits unterwegs.“
„Okay“, murmelte Jennifer. „Wo?“
„Quai Voltaire. Zwischen Pont du Carrousel und Pont Royal.“
„Alles klar.“ Sie hängte ein, strich sich eine ihrer halblangen braunen Haarsträhnen aus den Augen und blinzelte ins erste Tageslicht, das durch die locker heruntergelassene Jalousie fiel. Der Wecker zeigte halb sechs, sie hätte ohnehin in einer Stunde aufstehen müssen.
„Ist schon wieder jemand ermordet worden?“, brummelte ihr Lebensgefährte Kilian schlaftrunken von der anderen Seite des Bettes.
„Mal sehen, ob es ein Tötungsdelikt war oder ein Unfall. Guten Morgen.“ Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn zärtlich. Als Geschäftsführer eines Irish Pubs hatte er wie immer bis in die Nacht hinein gearbeitet und war noch später ins Bett gekommen als sie. „Schlaf weiter, chéri.“
Jennifer schwang die Beine aus dem Bett, lief ins Bad, erledigte hastig ihre Morgentoilette und schlüpfte dann in Jeans und einen leichten sportlichen Blazer. Das Frühstück würde sie auf später verschieben – wenn ihr bei Betrachtung der Leiche nicht sowieso der Appetit verging. So langsam sollte sie sich mal daran gewöhnen, denn ein Anruf, der sie am frühen Morgen oder auch mitten in der Nacht aus dem Bett holte, um eine schlimm zugerichtete und übelriechende Leiche anzusehen, wurde zur Routine, seit sie vor anderthalb Jahren bei der Kriminalpolizei angefangen hatte.
Kurz darauf verließ sie die kleine Wohnung im 13. Arrondissement, in der sie mit Kilian lebte, seit sie von der Polizeiakademie in der Provinz nach Paris zurückgekehrt war. Auf dem Weg zum Auto kaufte sie in einer Boulangerie ein appetitlich duftendes Croissant und verschlang es sogleich. Auf nüchternen Magen würde ihr mit Sicherheit schlecht werden, und Hauptkommissar Philippe Maillot würde sie verächtlich ansehen oder gar eine herablassende Bemerkung machen, die sie vor den Kollegen bloßstellte.
Der Himmel über Paris war zartblau, die Luft mild, und es versprach, ein warmer Frühsommertag zu werden. Die Uferstraße der Seine war zu dieser frühen Stunde noch nicht so stark befahren wie sonst, die Terrassen der Bistros noch leer. Straßenreiniger fegten Staub und Müll aus den Rinnsteinen, und die ehrwürdigen alten Gebäude, die den Fluss säumten, erstrahlten im ersten hellen Tageslicht. Jennifer fuhr an der dicht bebauten Seine-Insel Ile Saint-Louis vorbei, wo ihr Vater Dominique wohnte, und fragte sich, ob er schon wach war. Sie musste ihn und seine Familie unbedingt bald wieder besuchen. Obwohl das letzte Mal kaum eine Woche zurücklag. Nach all den Jahren verspürte sie noch immer eine starke Verbundenheit mit ihrem Vater, und ihr kleiner Halbbruder war ihr sehr ans Herz gewachsen.
Während sie an einer roten Ampel wartete, wickelte sie die breite Armbinde mit der AufschriftPolice um ihren Oberarm und befestigte sie mit dem Klettverschluss.
Als sie kurz darauf am Pont du Carrousel vorbeikam, erblickte sie etwa hundert Meter weiter leuchtend rote Absperrbanderolen und zahlreiche Gaffer, die sich dahinter eingefunden hatten. Sie hielt mit ihrem weißen Renault im Parkverbot und stellte das Ausweisschild der Kriminalpolizei in die Windschutzscheibe. Dann überquerte sie die Straße, nickte dem Polizisten zu, der für sie das Absperrband lüftete und trat mit kurzem Gruß zu ihren Kollegen.
Hauptkommissar Maillot, der zusammen mit dem Rechtsmediziner neben der Leiche hockte, blickte kurz auf und winkte sie heran. „Bonjour, Demesy. Kommen Sie ruhig her.“
Jennifer schlüpfte in die dünnen Plastikhandschuhe, die ein Kollege ihr reichte, atmete tief durch und trat näher. Ruhig und sachlich betrachtete sie die Leiche, eine grazile Frau in