1. Dreckarbeit ((12.32Uhr))
In der letzten Nacht hatte der Regen endlich aufgehört. Aber die Erde in Tante Bettys Garten war immer noch vollgesogen. Der Lehm klebte so an Kims Stiefeln, dass es sich anfühlte, als wären seine Füße in Beton eingegossen. Bei jedem Schritt schleppte er einen Zentner Gewicht mit sich. Ein kalter Wind wehte, der den nahen Winter ankündigte. Ein Winter mit Schnee und Eis, wie ihn Kim noch nie erlebt hatte. Und nicht erleben wollte. Denn innerlich lebte er immer noch in Shanghai, er war noch gar nicht richtig in diesem fremden Land angekommen. Deutschland. Und ausgerechnet Drensteinfurt. Das Kaff war so winzig, dass man an einem Ende einen Stein werfen konnte, der am anderen wieder herausfiel. Das war Drensteinfurt! Hätte es nicht wenigstens die Kreisstadt Münster sein können, wo er ja schließlich zur Schule ging?
Aber sein Vater Lutz Reimer hatte darauf bestanden, dass sie ins Haus des verstorbenen Großvaters zogen, Kimsdeutschem Großvater. Dessen Schwester, Kims Großtante Betty, lebte schon seit vielen Jahren allein in diesem Haus.
Beim Gedanken an seinen Vater zog sich Kims Herz schmerzhaft zusammen. Würde er wirklich Weihnachten kommen? Oder würde er ihn mit einer alten Frau allein lassen, die ständig an ihm herumnörgelte? Die ihn genauso abstoßend fremd fand wie er sie.
Vor drei Monaten hatte Kims Vater ihn nach Drensteinfurt gebracht und war sofort wieder nach Shanghai zurückgeflogen, um dort noch etwas an seinem alten Institut zu regeln. Lutz Reimer war Biotechnologe. Diese letzten Arbeiten zogen sich anscheinend endlos lange hin, und Kim versauerte inzwischen an einem Ort, der ihn schaudern ließ.
Die Luft war noch so feucht, dass er bestimmt bis zum Abend Schimmel ansetzte. Kims Freundin und Klassenkameradin Lisa Wagner schien das schlechte Wetter nichts auszumachen. Eifrig wühlte sie neben ihm in der Erde, die er zuvor mit einer Grabegabel aufgelockert hatte, und holte unansehnliche Zwiebeln heraus. Geradezu andächtig wischte sie die größeren sauber. Sie hatte etwas von Papageien gemurmelt, aber Kim hatte nicht genau hingehört.
Papageien? Die Zwiebeln hatten nun wirklich keinerleiÄhnlichkeit mit Papageien. Was sollte das also? Ein blöder Witz?
Ihre Haare hatte Lisa nachlässig mit einem Tuch am Hinterkopf zusammengebunden. Einige Locken hatten sich befreit und fielen ihr ins Gesicht. Das machte sie noch hübscher. Manchmal konnte Kim Lisa kaum ansehen, so sehr gefiel sie ihm mit ihrem Feuerhaar, den Sommersprossen und den jadegrünen Augen. Das würde er natürlich aus Furcht, sich lächerlich zu machen, niemals offen zugeben. Lisa war immer noch ein paar Zentimeter größer als er, obwohl er in den letzten drei Monaten ein Stück gewachsen war. Irgendwann würde er sie einholen, hatte er sich geschworen. Sie waren ja beide genau gleich alt, dreizehn Jahre und ein paar Monate.
Lisa würde er vermissen, wenn er wieder in Shanghai war. Sie war fast die Erste, die ihn hier willkommen geheißen hatte, und es war ein glücklicher Zufall, dass sie direkt im Nachbarhaus wohnte.
Ihr elfjähriger Bruder Dennis half ebenfalls bei der Gartenarbeit. Das hieß, er hielt seiner Schwester mit wichtigtuerischer Miene den Korb hin, in den sie die gereinigten Knollen legte. Dabei vermied er es, in den Matsch zu treten, und blieb an der Rasenkante stehen. So erreichte er gleich zweierlei: Er blieb sauber und brauchte sich in keiner Weise anzustrengen. Das war typisch für ihn. Der rundliche Dennis hatte es nicht so mit körperlichen Anstrengungen.
Hinter ihnen auf der Terrasse lag bereits der Weihnachtsbaum, den Tante Betty hatte besorgen lassen. Noch vierzehn Tage bis Weihnachten. Es würde das erste Weihnachten ohne Kims Mutter sein, die vor einem dreiviertel Jahr gestorben war. Ihr Tod war der Anlass für den Umzug nach Deutschland gewesen. Von seiner Mutter hatte Kim die mandelförmigen Augen und das lackschwarze Haar geerbt, denn sie war Chinesin gewesen. Er war also Halbchinese, hatte sich aber in Shanghai immer nur als Chinese gefühlt. Er dachte wie ein Chinese und er fühlte wie einer. Oder etwa nicht? Manchmal kam es ihm so vor, als würde langsam etwas daran ins Wanken geraten. Und das wollte er nicht. Er wollte nicht verwestlichen und die barbarische hiesige Lebensart annehmen. Ein Grund mehr, nach China zurückzukehren.
Wie eine heiße Welleüberfiel ihn die Sehnsucht nach Shanghai, nach seinen Freunden und– nach Großvater Kao. Sein chinesischer Großvater war uralt, hatte lange als Mönch in Tibet gelebt, war jahrelang herumgereist und steckte voller Geheimnisse, die er nur widerwillig preisgab. Er wohnte in einem kleinen Holzhaus am Meer, an das Kim gerade heute intensiv denken musste. Ein Haus voller Licht und Wärme, die er jetzt so notwendig wie noch nie brauchte. Unverhofftüberkam ihn Wut. Eine geradezu mörderische Wut. Viel zu heftig stieß er die vierzinkige Gabel in die Lehmerde und riss sie wieder heraus.
Lisa schrie gellend auf.
Wie ein Echo ertönte hinter ihr ein zweiter Schrei. Kim schaute an ihr vorbei und sah Tante Betty auf der Terrasse stehen. Wahrscheinlich hatte sie gerade verkünden wollen, dass das Mittagessen fertig sei. Flüchtig fragte er sich, was es diesmal geben würde: Mehlklöße, die wie Steine im Magen lagen? Mit zerkochtem Fleisch und pappiger brauner Soße?
Wegen einer wichtigen Lehrerkonferenz war für alle Schüler nach der dritten Stunde der Unterricht ausgefallen