: Gerald Murnane
: Landschaft mit Landschaft
: Suhrkamp
: 9783518762684
: 1
: CHF 26.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Ein Mann soll vor einem komplett weiblich besetzen Komitee die Wahrheit über sein Intimleben aussagen, doch je mehr er sich anstrengt, desto unrettbarer verheddert er sich in seine Fantasien und Träume. Ein anderer Mann sucht im Hügelland rings um die Metropole über zwanzig Jahre lang wie besessen nach einer Landschaft und einer Frau, die kein Künstler zu malen vermöchte. Ein Dritter - oder ist es ein- und derselbe Mann? - sabotiert sich auf Partys selber mit Drinks, bei dem Versuch, Frauen nachhaltig zu beeindrucken, indem er ihnen minutiös seine neueste Theorie des Schreibens auseinandersetzt.
Niemals ist pointierter, hellsichtiger, aberwitziger über männliche Befangenheiten geschrieben worden -Landschaft mit Landschaft, das sind weitreichende, bewusstseinserweiternde Erkundungen von Gegenden, inneren wie äußeren Gegenden, in denen wir eigentlich noch nicht gewesen sind.

In kräftig erzählten, raffiniert ineinander greifenden Geschichten unternimmt Gerald Murnane, 'der große Solitär der Gegenwartsliteratur' (The New Yorker), eine Reise durch die Vororte Melbournes in den frühen sechziger Jahren. Und umkreist dabei die miteinander kollidierenden Bedürfnisse nach Katholizismus und Geschlechtsverkehr, Autonomie und Intimität, Alkoholexzess und Literatur.



<p>Gerald Murnane, geboren 1939 in Melbourne, ist der vielfach ausgezeichnete– und mit u.a. Kafka, Calvino, Borges und Thomas Bernhard verglichene– Autor von zwölf Romanen, Erzählungsbänden und Essays. In den vergangenen Jahren war Murnane immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden.</p>

Die Essenz schlürfen


Zu viert mieteten wir eine Wohnung der Orlando Holiday Flats, am Ende eines Sandweges am Rand von Sorrento gelegen. Keiner von uns war älter als zwanzig, und zum ersten Mal lebten wir außerhalb unseres Zuhauses. Nur zwei von uns hatten Autos, und wir alle mussten das einzige Schlafzimmer in der Wohnung teilen, doch sprachen wir oft davon, eines Abends Mädchen zu uns mitzubringen. Und wir planten eine wilde Party am Neujahrsabend, dem letzten Tag der 1950er – der Dekade, die uns durch unsere Teeniezeit gebracht hatte.

In unserer ersten Ferienwoche spielten wir morgens Golf und tranken nachmittags Bier. Um sechs, wenn die Hotels schlossen, gingen wir zu unserer Wohnung zurück und setzten uns um den tragbaren Plattenspieler, aßen Fish and Chips, tranken noch mehr Bier und versuchten zu entscheiden, zu welcher Tanzveranstaltung wir gehen sollten. Etwa gegen neun verkündete einer von uns, dass er zu betrunken sei, um zu irgendeiner Tanzveranstaltung zu gehen. Das war für uns alle das Signal zu entspannen. Einer stellte den Plattenspieler lauter und ein anderer ging zum Kühlschrank, um eine weitere Flasche zu holen. Um Mitternacht schliefen wir alle schon, lagen in Unterhemden und Unterhosen und Socken in unseren Doppelstockbetten, die ohne Laken waren, weil wir uns nicht darum gekümmert hatten, welche mitzubringen.

Am Neujahrsabend jedoch mussten wir uns treu bleiben. Wir spielten wie gehabt unsere frühmorgendliche Runde Golf und zechten wie gehabt am Nachmittag. Doch am Abend schüttelten wir die Sofakissen aus, zogen die Bettdecken auf unseren Betten gerade, fegten den Boden, spülten den Stapel Gläser in der Spüle und wischten den Toilettensitz mit einem feuchten Putzlappen. Dann füllten wir den Kühlschrank mit Bier und dem, was wir Damengetränke nannten. Dann zogen wir unsere beste Freizeitkleidung an.

Es war abgemacht, das wir zum Tanzen in den Rettungsschwimmerclub gingen. Doch im letzten Augenblick sagte Kelvin Durkin, er brauche ein paar Stunden Schlaf, um nicht zu betrunken für die Party zu sein. Da er nicht zu den Autobesitzern zählte, durfte er in sein Bett. Als dann die Motoren der beiden Autos schon liefen, zögerte ich. Ich hatte zu einer kleinen Rede an den Mann, der mich fahren wollte, angesetzt. Ich war im Begriff zu sagen, dass ich von meinen siebenundzwanzig Golflöchern immer noch fix und fertig sei; dass ich etwas mehr Alkohol brauche, um mich wiederzubeleben; dass ich jedenfalls besser in der Wohnung bliebe, um zu verhindern, dass Durkin an seinem Erbrochenen erstickte, falls es ihm in seinem Bett übel werden sollte. Doch die zwei Männer an den Lenkrädern ihrer Autos hatten null Interesse an meiner Rede. Als ich keine Anstalten machte, mich ihnen anzuschließen, fuhren sie los in den dunklen Tunnel eines Teebaumgestrüpps, das Einzige, was ich von der Straße nach Sorrento sehen konnte.

Ich ging zum Kühlschrank und wählte nicht Bier, sondern eine volle Flasche mit einem Likör namens Danziger Goldwasser. Ich stellte den Plattenspieler aus und fläzte mich mit griffbereiter Flasche in meinen Sessel. Ich achtete darauf, dass mein Gesicht durch das offene Fenster nicht zu sehen war. Dann hielt ich mein Glas ins Licht und fischte mit dem Finger nach den goldenen Flöckchen, die im Likör glänzten.

Laut Flaschenetikett war für das Originalrezept echtes Gold nötig. Ich vermutete, dass ich ein armseliges Imitat trank, das Geschäftemacher in einem inneren Vorort Melbournes zusammengebraut hatten, doch entsprach es meiner Stimmung, dass Flocken geheimnisvollen Stoffs in meinem Glas trieben und ich mit den Bürgern des alten Danzig verbunden war, während in der Dunkelheit um die Ferienwohnungen aus Faserzement Bierflaschen misstönend klirrten. Ich trank erst seit ein paar Monaten regelmäßig, und ich mochte den Geschmack von Bier nicht, auch wenn ich zu schüchtern war, um in überfüllten Bars etwas anderes zu bestellen. Privat experimentierte ich mit Verschnitten aus Spirituosen und Soft Drinks. Wenn ich ein Getränk entdeckte, das ich gut trinken konnte, bereitete ich es in der richtigen Mischung zu und brachte es im Flachmann zu Partys mit. Ich wollte meinem Getränk einen extravaganten Namen geben und meine Freunde dazu bringen, mich als einen Mann mit ausgefallenem Geschmack anzusehen. Das Goldwasser war mein jüngstes Experiment.

Fetzen von Gelächter und Musik drangen von den anderen Wohnungen der Orlando Holiday Flats zu mir herüber. Ich löschte das Licht und setzte mich trinkend ins Dunkel. Ich hätte es mir nicht eingestanden, doch war ich etwas beschämt, ausgerechnet in dieser Nacht allein zu sein, als ich von Tanzveranstaltungen und Partys umgeben war. Und doch wollte ich nicht gegen die Wand des überfüllten Rettungsschwimmerclubs gedrückt werden oder in einer Wohnung voller Fremder allein am Kühlschrank stehen. Ich wollte mein Vergnügen haben, wenn mir danach war, und an den Orten, die mir passten. Jeden Nachmittag, wenn meine drei trinkenden Gefährten den Biergarten verließen und am Strand entlangtorkelten, um Mädchen anzuquatschen, blieb ich zurück. Ich fand einen Sitzplatz mit Sicht auf die ganze Weite der Port Philipp Bay. Dort saß ich und vollführte eine Übung, die ich »Queensland gegen das Licht halten« nannte.

Damals glaubte ich, nicht nach Victoria zu gehören. Meine speziellen Hoffnungen, so meinte ich, könnten nur im fernen Sonnenschein von Queensland erfüllt werden, das ich – bis jetzt – nur von Bildern in Zeitschriften kannte. Doch könnte ich im Voraus einige der Freuden von Queensland genießen, wenn ich auf Victoria mit dem richtigen Abstand schaute. Und so saß ich oben auf der Klippe in Sorrento, während meine Kumpels den Strand inspizierten. Der ferne Bogen aus Sand, dicht übersät mit den gebräunten Körpern der Mädchen, denen ich jetzt gerade noch nicht begegnen wollte; und weiter im Hintergrund die verschwommenen Vorgebirge über anderen Stränden, garniert mit anderen Ansammlungen von Mädchen; und hinter mir die eng zusammenstehenden Hügel von Portsea, wo sich die Töchter der reichsten Familien von Melbourne neben Privatpools in abgelegenen Gärten sonnten – all dies gehörte zu meinem persönlichen Queensland, solange ich nicht auf den Sand hinabging und zwischen Knäueln nackter Beine und Schultern umhertappte und auf meinem Gesicht nicht das vielfache Starren feindlicher Augen verspürte, unsichtbar hinter dunklen Sonnenbrillengläsern. Und abends, wenn jedes durchs Gebüsch dröhnende Auto ein Pärchen zu einer schattigen Parkbucht in einer Sackgasse bringen mochte, konnte ich ganz unbeschwert darüber sinnen, wie die Scheinwerfer erloschen und die Wagenscheiben beschlugen und die Liegesitze auf der ganzen Mornington-Halbinsel zu gutem Gebrauch in Stellung gebracht wurden, auch wenn mir nur drei betrunkene junge Männer Gesellschaft leisteten, während ich einschlief. Ich konnte dies, weil ich mich für ausersehen hielt, zu gegebener Zeit die verfeinerten und lang währenden Freuden von Queensland zu genießen.

Manchmal, wenn die anderen sturzbetrunken in ihren Betten lagen, stand ich leise auf und nahm ganz unten aus meinem Koffer das von mir so genannte Queensland-Notizbuch und vermerkte das Thema eines der Gedichte, das ich schreiben wollte, wenn ich mich schließlich im Schatten eines Regenwaldes eintausend Meilen von Melbourne entfernt befände. Am Neujahrsabend 1959, allein in der Dunkelheit und an die goldenen Flöckchen denkend, die sich schwach in der Flasche neben mir bewegten, und die zahllosen Lichtpunkte, die im Umkreis von Meilen in der warmen Nachtluft bebten, war ich bereit, eine weitere Notiz in mein Buch zu machen, falls ich das tun konnte, ohne Durkin in seinem Bett aufzuwecken.

Doch dann flammte das Licht auf und Kelvin Durkin stand in der Schlafzimmertür und grinste mich an. Er ging zur Toilette, und ich horchte auf das Geräusch des Erbrechens, doch ich hörte ihn nur lange und ruckartig urinieren. Er kam heraus, öffnete eine Bierflasche aus dem Kühlschrank und setzte sich neben mich. Er fragte, warum ich nicht irgendwo beim Tanzen sei. Er verhielt sich weniger albern als sonst, und ich dachte, es bestünde immer noch die Gefahr, dass er sich übergab.

Meine drei Wohnungsgenossen nannte ich, meinen Widerwillen gegen das Wort hinunterschluckend, allesamt Kumpel. Doch Durkin war der Einzige, mit dem ich je ernsthaft zu reden versucht hatte. Er selbst bezeichnete sich als einen Spaßmacher...