Ann Kathrin musste manchmal einfach raus. Dienstbesprechungen waren im Prinzip gut. Viele Meinungen zu hören, alle Informationen zu sammeln, das brachte sie oft weiter. Aber dann wieder musste sie aufpassen, sich nicht durch zu viele ungeordnete Eindrücke verwirren zu lassen. Etwas Besseres als einen Spaziergang am Meer konnte es dann für sie nicht geben.
Weller schaffte es, die Probleme einzudeichen, indem er in eine Tasse Kaffee pustete und zusah, wie die schwarzen Wellen sich kräuselten. Ann Kathrin musste wirklich zum Deich, den Wind spüren und das Meeresrauschen hören. Ein paar hundert Meter auf der Deichkrone geradeaus zu gehen reichte oft schon aus, und sie bekam das Gefühl, der Wind wühle nicht nur in ihren Haaren, sondern puste ihr auch das Gehirn frei. Hier oben, mit dem weiten Blick ins Inland auf der einen Seite und der Aussicht auf die Nordsee und die Inseln auf der anderen, wurde das Wesentliche wieder deutlich. Sie musste immer nur weitergehen und diesem Prozess vertrauen, dann kam irgendwann auch die Klarheit. Es war manchmal wie im Theater, wenn der Vorhang sich öffnete und das Spiel begann.
Die lange Trockenheit hatte dem Gras nicht gutgetan. Lediglich die Salzwiesen, die regelmäßig von der Nordsee geflutet wurden, waren noch richtig grün. Hier wuchsen Strandastern, Queller und das mineralstoffhaltige Andelgras. Der Nordsee-Enzian blühte rosa. Er wurde Tausendgüldenkraut genannt, das hatte ihr Vater ihr erzählt, auch weil die Pflanze früher als wertvolles Arzneimittel galt und vieles heilen konnte. Sogar Schweißfüße und Liebeskummer. Daher sei es tausend Gulden wert.
Ein anderes Mal hatte er ihr erzählt, ein Kentaur, halb Pferd, halb Mensch, habe das Kraut als Heilmittel gegen Magenschmerzen benutzt, weil er sich überfressen hatte.
Warum, fragte Ann Kathrin sich, muss ich gerade jetzt an meinen Vater denken? Und dann war es, als würde er neben ihr hergehen, und sie wurde zum kleinen Mädchen an seiner Hand. Es tat gut, die Verantwortung einen Moment loszulassen und ganz frei von jedem Druck über den Deich zu hüpfen. Eine Schafherde machte ihr respektvoll Platz. Eine Gasse bildete sich ganz unspektakulär, fast so, als hätten die Schafe auf ihr Erscheinen gewartet.
Weller ging ein paar Schritte hinter Ann Kathrin her. Er ahnte, was in ihr vorging, und störte sie nicht. So war sie eben. Seine Frau!
Sie hörte die Stimme ihres Vaters:Schafe fressen jeden Tag Gras. Ich glaube nicht, dass sie eine Ahnung von den Wurzeln haben und den Bedingungen, unter denen Gras nachwächst. Sie verlassen sich einfach darauf. Und wenn eine Wiese abgegrast ist, dann ziehen sie eben weiter.
»Was willst du mir damit jetzt sagen, Papa?«
Er sprach wie so oft in Rätseln, gab ihr Denkaufgaben, wollte, dass sie selbst Erkenntnisse hatte, statt ihr platte Ratschläge zu geben.
»Wenn wir einen Fall betrachten, dann grasen wir nur die Oberfläche ab, statt zu schauen, wo die Probleme entstehen. Willst du mir das damit sagen, Papa? Sind wir hier wie die Schafe?«
Ann Kathrin hörte den Hund bellen, der die Herde zusammenhielt. Er trieb ein verirrtes Schaf zurück, sinnigerweise das einzige schwarze weit und breit. Einen Schäfer sah sie nicht.
Ist es das, dachte sie. Sehe ich nur die Herde auf dem Deich und den Hund, aber nicht den Mann dahinter? Will mein Vater mir das sagen? Folgt alles, was wir gerade erleben, einem großen Plan oder ist es eine Kette zufälliger Ereignisse? Steckt mehr dahinter, als wir sehen? Wer schert die Schafe? Wer verkauft die Wolle? Wer hat die Tiere hierhergebracht? Irgendjemand hat das doch alles im Griff. Ich sehe nur den Hund, der ein Schaf zurücktreibt, damit es nicht verloren geht. Aber wer füttert diesen Hund?
Sie blieb stehen und hielt ihr Gesicht in den Wind. Sie schloss die Augen. Sie genoss das Flattern ihrer Haare. Sie atmete tief durch die Nase ein.
Weller wartete keine zehn Schritte hinter