: Tove Alsterdal
: Tödliches Schweigen Kriminalroman
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783838753041
: 1
: CHF 6.40
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 463
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Es herrscht eisige Kälte, als Lars-Erkki Svanberg, ehemals der beste Skilangläufer des Nordens, brutal mit einer Axt erschlagen wird. Warum ermordet jemand einen kauzigen Einzelgänger, der seit Jahren zurückgezogen auf seinem Hof lebt? Zur gleichen Zeit erschießt in St. Petersburg ein russischer Mafiosi einen Freund und flieht Richtung Schweden. Während der Frühlingswinter am Polarkreis einzieht, laufen die Fäden in Lars-Erkkis Dorf in Nordschweden zusammen. Und ein weiterer Mord geschieht ...

Sie drehte den Wohnungsschlüssel um. Zwei Umdrehungen, an die sich ihre Hand erinnerte, zwei Umdrehungen, die einem versicherten, dass man ordentlich abgeschlossen hatte.

Sofort schlug ihr der Gestank entgegen. Sie wich zurück und hielt die Luft an. Dünste von Kot und verfaulendem Müll.

Stickigkeit und Einsamkeit und eingetrockneter Urin.

Katrine band sich den Schal vor den Mund und stellte ihren Koffer in den Flur. Dann zog sie schnell die Tür hinter sich zu, damit der Geruch nicht ins Treppenhaus drang und die Nachbarn sich wunderten, was sie hier zu suchen hatte.Und warum sie nicht früher gekommen war.

Auf dem Boden hatten sich die Post und Werbeprospekte hinter dem Türschlitz zu unordentlichen Bergen getürmt. Hier stand die vertraute Kommode im Rokokostil, hier lagen die braun-rosafarbenen Webteppiche, die noch nie ausgetauscht worden waren, und hier hing die Hutablage, auf der die alte Pelzmütze ihrer Mutter thronte. An der Wand entdeckte Katrine den Kunstkalender mit Motiven aus der Tate Modern, den sie zu Weihnachten aus London geschickt hatte.

Kein einziges Kalenderblatt war gewendet worden. Die Zeit war stehen geblieben.

Ich bin sofort gekommen, nachdem sie angerufen haben, sagte sie zu sich selbst. Im Kopf entwarf sie bereits ihre Verteidigungsrede, während sie von Zimmer zu Zimmer ging und alle Fenster weit aufriss. Ich wohne in London. Ich kann nicht einmal in der Woche nach Hause fliegen, um Mama zu besuchen. Und warum hat Anders sich nicht um sie gekümmert? Ich habe einen Bruder, ich habe verdammt noch mal einen Bruder, der gerade einmal drei Kilometer von hier entfernt wohnt. Ich kann nicht alle Schuld auf mich nehmen.

Sie sank auf einen Küchenstuhl, von wo aus ihr Blick direkt auf einige verkohlte Reste neben dem Toaster fiel. Was war das bloß? Fleischwurst?

Im Krankenhaus hatten sie gesagt, Ingrid Hedstrand sei unterernährt gewesen, was die Demenz vermutlich verschlimmert hatte. Eine Nachbarin hatte Alarm geschlagen. Die Wohnungstür hatte offen gestanden, Ingrid hatte auf dem Boden gelegen und nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen können. Doch das kranke Bein war nicht das Schlimmste. Im Krankenhaus hatte man eine senile Demenz vom Alzheimer-Typ festgestellt. Möglicherweise hatte Ingrid Hedstrand auch einen leichten Schlaganfall erlitten. Jetzt wurde untersucht, wie pflegebedürftig sie war.

Verzeih mir, Mama, dass ich nicht hier war. Verzeih mir, dass ich nichts wusste.

Lange saß sie auf einem Ecksofa im Wohnzimmer und weinte. Die inneren Bilder von der Mutter in diesem Zimmer; lächerliche kleine Details. Wie sie dort auf dem Sofa saß, immer ganz am Rand, und strickte, während der Fernseher lief, oder einen Schal oder eine Strickjacke häkelte, egal bei welcher Sendung, immer waren ihre Hände mit irgendetwas beschäftigt. Eine Tasse Silbertee am Abend und ein belegtes Knäckebrot. Silbertee! War das nicht einfach nur heißes Wasser mit Zucker? Abends zog sie immer ihren hellgrünen Morgenrock an, um die anderen Kleider nicht unnötig zu zerschleißen. Und das Haar, immer ordentlich auf Wickler gedreht, wenn sie schlafen ging, und das morgendliche Make-up, wenn sie zur Apotheke aufbrach. Katrine erinnerte sich daran, dass sie sich eine jüngere Mutter gewünscht hatte; warum ihr das so wichtig gewesen war, wusste sie nicht mehr.

Draußen brach eine graue Dämmerung herein.

Sie trat auf den Balkon und stand lange in der feuchten Kälte. Sahüber die Vororte, Månadsvägen, Västerby, Jakobsberg. Ihr Kindheitsland, ein Feld zwischen Straßen und Wohngebieten, morastig von Schneematsch und Lehmboden. War es hier nicht schon immer schlammig gewesen? Dreck, der bis zur Jeans hinaufspritzte? Dort hatte sie auf dem Weg zur Schule eine Abkürzung genommen und war von den Jungs aus ihrer Klasse mit Schnee eingeseift worden. Hatte hinter dem Werkraum Klebstoff geschnüffelt und zum ersten Mal mit Jojje geknutscht. Ihre gesamte Schulzeit war auf der anderen Seite des Felds aufgereiht, flache Gebäude von der Grundschule bis zum Gymnasium, in denen sie mehr Tage verbracht hatte, als sie Lust hatte zu zählen. Beim Abi-Fest hatte sie sich mit einem widerwärtigen Gesöff betrunken, das sie aus gestohlenen Resten aus Ingrids Schrank zusammengemischt hatte, und war anschließend in einem fremden Bett aufgewacht, mit Brechreiz und einem einzigen Gedanken im Kopf: frei.

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