Lisels Geburt
Gerhard Sander war Polizeiobermeister und Dienststellenleiter in Engern. Er sollte wie Karl Strüve in der gleichen Nacht zu Vaterehren kommen.
Eine weitere Gemeinsamkeit hatte er mit Karl insofern, als auch er wie aus heiterem Himmel von der unvermutet schnellen Niederkunft seiner Ehefrau überrascht wurde. Auch er war auf seiner Arbeit. Auch er machte gerade Pause. Auch bei ihm wurde die Tür aufgerissen und ein aufgeregter Kollege, auf dessen Uniformjacke Abzeichen und Schulterklappen eines Polizeianwärters prangten, kam herein und berichtete, dass Sanders Nachbarin angerufen habe, um mitzuteilen, dass bei seiner Frau die Wehen eingesetzt hätten.
Wie Karl konnte er nicht wissen, dass jede Eile unnötig war. Es sollte noch einige Stunden dauern, bis das Neugeborene das Licht der Welt erblicken würde.
Damit war es aber vorbei mit den Gemeinsamkeiten.
Er saß zwar auch, aber nicht auf einem Verschalbrett, sondern in einem bequemen Bürosessel, und als er in seiner ersten Reaktion aufsprang, hatte das auch nicht die gleichen folgenschweren Effekte, wie sie im vorangegangenen Fall zu berichten waren. Auch sollte dies sein einziger sichtbarer Gefühlsausbruch bleiben.
Kaum stand er, hatte er schon seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Jetzt ärgerte er sich, weil er vor seinem Kollegen die Fassung verloren hatte und aufgesprungen war.
Er hasste jede Art von Unbeherrschtheit. Er hasste Gefühlsduseleien.
Immer gab er sich ruhig und gelassen, gleichgültig wie aufgewühlt er innerlich wirklich war. Er war Polizeiobermeister und infiziert vom glamourösen Image, das Fernsehen und Kino seinem Berufsstand verliehen. Seine Vorbilder waren Detektive wie Sherlock Holmes oder Maigret. Er eiferte ihnen nach. Er wollte wie sie sein: nüchtern und sachlich und kühl im Handeln oder Einschätzen einer Situation. Dazu passte einfach nicht, dass er seine Selbstbeherrschung verlor.
Gerhard Sander hatte noch keinen Fall von Bedeutung gehabt. In einem Dorf wie Engern passierte eben nicht viel. Seit fünfzehn Jahren war er Polizeiobermeister und seit zehn Jahren hatte er in Engern sein eigenes Revier, und seit genauso vielen Jahren langweilte er sich zu Tode. Der Höhepunkt seiner Karriere war das zweifelhafte Vergnügen bei der Obduktion einer Leiche anwesend gewesen zu sein. Diese hatte er überraschend gut überstanden, so dass er fortan meinte jedem seiner Kollegen eine Pathologievorlesung halten zu können. Nicht zuletzt darum glaubte er von sich, jeder Situation, die da kommen mochte, gewachsen zu sein. Er würde wie seine Phantasiehelden seinen Ekel unterdrücken, seine Gefühle ignorieren oder ganz einfach ausschalten. Er glaubte ein raubeiniger, hartgesottener, abgezockter Polizist zu sein.
In Wirklichkeit war er nichts davon. Schon äußerlich war er nur die Karikatur seiner Vorbilder. Böse Zungen behaupteten sogar, dass er eigentlich mehr Don Quichotte ähnelte, dem Ritter von der traurigen Gestalt. Er war etwas zu groß und spindeldürr, beim Gehen glaubte man deutlich das Klappern seiner Knochen zu hören. Er hatte ein schmales, hohlwangiges Gesicht, eine spitze lange Nase, darunter einen auffälligen, schwarzen Schnurrbart. Seine Augen waren zu groß und darüber hinaus schielte er ein wenig.
Als bekannt wurde, dass die Sanders ein Kind erwarteten, gab es nicht wenige im Dorf, die nicht nur beim Kirchgang ein Stoßgebet gen Himmel schickten, mit dem frommen Wunsch, dass das neugeborene Kind hoffentlich so wenig wie möglich vom Vater erben würde. Zumindest was das Äußere betraf.
Natürlich wusste Sander um seine körperlichen Makel. Um sein Äußeres aufzuwerten, tat er darum zwei Dinge: Erstens trug er immer seine Uniform zur Schau,