: Andrea Nagele
: Grado im Nebel Ein Adria Krimi
: Emons Verlag
: 9783960413431
: 1
: CHF 6.80
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 256
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein hochspannendes Verwirrspiel, das den Leser bis zum Schluss in Atem hält In der Lagune von Grado wird eine weibliche Leiche gefunden. Der Fall erinnert Commissaria Degrassi an eine Mordserie, die den Küstenort kurz zuvor in Atem hielt, doch der Täter sitzt hinter Gittern. Als weitere Verbrechen geschehen, kommen Degrassi und ihrem Team Zweifel an seiner Schuld. Ist die Commissaria auf der richtigen Spur? Die Zeit läuft ihr davon - denn immer, wenn der Nebel aufzieht, bringt er neues Grauen mit sich ...

Andrea Nagele, die mit Krimi-Literatur aufgewachsen ist, leitete über ein Jahrzehnt ein psychotherapeutisches Ambulatorium. Sie betreibt auch heute noch in Klagenfurt eine psychotherapeutische Praxis. Mit ihrem Mann lebt sie in Klagenfurt am Wörthersee und in Grado an der Adria. Die ersten beiden Thriller der 'Grado'-Reihe sind ins Italienische übersetzt worden. www.andreanagele.at

Teil 1


1


Der Mann saß regungslos auf dem einzigen Stuhl und starrte ins Leere. Das wenige Licht, das durch das schmale, hoch an der Wand angebrachte vergitterte Fenster fiel, ließ seine Gesichtsfarbe unnatürlich blass wirken. Vor ihm, in der Mitte des Raumes, stand ein massiver Holztisch. Zwei schwere Rollkästen an der einen Seite der Wand und ein einfaches Waschbecken auf der anderen vervollständigten die karge Einrichtung.

Er hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestemmt und seinen Kopf in die Hände gestützt. Vor ihm aufgeschlagen lag eine alte Ausgabe des »Il Piccolo«. »Körperlich und geistig Beeinträchtigter gesteht Mord und Vergewaltigungen«, lautete die Schlagzeile auf der zerknitterten Seite. Darunter, auf dem grobkörnigen Foto, war der mutmaßliche Täter zu sehen. Ein schwarzer Balken über den Augen ließ sein kaum zu erkennendes Gesicht seltsam anonym erscheinen, nur die massige, unförmige Gestalt gab ihm so etwas wie eine persönliche Note.

Der Mann kannte den Artikel auswendig. Wort für Wort könnte er ihn zitieren, ohne dazu einen Blick in die Zeitung werfen zu müssen. Auch das Foto hatte er immer und immer wieder studiert, hatte mittels einer starken Lupe – halb aus Jux und halb ernsthaft – versucht, hinter die Stirn des Beschuldigten zu schauen. Dessen Gedanken zu lesen, das war ihm freilich nicht gelungen.

Unvorstellbar, dachte er, was sich dort abspielen muss.

Und wie ist es mit meinem eigenen Denken?

In letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer, sich zur Ordnung zu rufen, sich zu beruhigen. Dabei stand er längst nicht mehr so unter Druck wie noch vor wenigen Monaten. Trotzdem hatte er auch da funktioniert, fast genauso wie früher, als er die Grenze noch nicht permanent überschritten hatte. Er war seiner Arbeit nachgegangen, hatte hin und wieder am öffentlichen Leben der Stadt teilgenommen, sich wie alle anderen verhalten – und doch die ganze Zeit gewusst, dass sie hinter ihm her waren. Es hatte ihm wenig ausgemacht, er war sicher gewesen, dass sie ihm nichts anhaben konnten.

Und jetzt? Jetzt, da sie einen Geständigen hatten? Seit jeder mögliche, selbst jeder eingebildete Verdacht von ihm genommen war, begannen seine Nerven zu reißen.

Wieder versuchte er, sich zur Ordnung zu rufen. Ihm war klar gewesen, dass mit der Verhaftung des vermeintlich Schuldigen der Zeitpunkt gekommen war, aufzuhören. Es war seine Chance, hinter die Linie zurückzukehren.

Nur, war es dafür nicht schon zu spät?

War er dazu überhaupt noch in der Lage, hatte er sich nicht schon zu weit von jenem Punkt entfernt, den eine moderne, rechtsstaatlich geprägte Gesellschaft tolerieren konnte?

Was aber scherte ihn die Gesellschaft! Auf ihn kam es an, nur auf ihn.

Immer schon hatte er sich als einen empfunden, der außerhalb stand, als einen, für den die allgemeinen Regeln und Normen nicht galten.

Zwar war ihm schon früh bewusst geworden, dass er sich zum Schein anpassen musste, um nicht als Freak zu gelten, aber damit konnte er leben. Bisher war es keinem außer ihm selbst gelungen, in seine Abgründe zu blicken.

Es hätte für Außenstehende auch lange Zeit wenig zu seh