KAPITEL EINS
Ein lauter Ruf riss London Rose aus ihren Gedanken.
„London!“
Sie wusste, dass diese Stimme immer Ärger bedeutete.
Gerade hatte sie noch mit einem angenehmen Gefühl des Erfolgs beobachtet, wie Amir, der Fitnesstrainer, auf dem offenen Rondodeck des schnittigen Schiffs seinen Wasseraerobic-Kurs gab. Die Passagiere hatten offenbar Spaß, und mehr als einer hatte London am Morgen für die Organisation des Kurses gedankt.
Das blau geflieste Schwimmbecken an Deck war so klein, dass man darin nicht ordentlich Bahnen ziehen konnte, aber ideal geeignet für eine kurze Abkühlung, Spiele und solche niedrigschwelligen Sportangebote. Die frische Luft, die warme Sonne und die fröhlichen Passagiere hatten für einen guten Start der Fahrt derNachtmusik von Györ nach Wien gesorgt.
Aber nun erklang diese scharfe Stimme erneut.
„London! Wir haben ein Problem!“
Es war Amy Blassingame, die Concierge des yachtartigen FlusskreuzfahrtschiffesNachtmusik.
Sie liebt es einfach, mit Problemen zu mir zu kommen, dachte London.
Widerwillig drehte sie sich um und sah ihre Kollegin besorgt an. Amy war ein paar Zentimeter kleiner als London mit ihrem Meter fünfundsiebzig und kräftiger gebaut. Sie trug ihr glattes, dunkles Haar zu einer Art Helm frisiert und konnte deshalb fast militärisch wirken, wenn sie sich einer Sache annahm.
Die Concierge gab sich keine besondere Mühe, den Anflug eines Grinsens zu verbergen.
„Sie werden diesen Hund loswerden müssen“, verkündete Amy.
London verspürte einen Anflug von Beunruhigung.
„Nein“, antwortete sie. „Ich bin sicher, dass dieses Thema erledigt ist.“
Zumindest dachte sie das. Nach dem Tod seiner Besitzerin hatte sie die Erlaubnis bekommen, Sir Reggie zu behalten.
„Ich fürchte, da irren Sie sich“, triumphierte Amy. „Es hat sich nämlich ein Passagier beschwert. Er hat Kabine 108 – direkt neben Ihrer. Das Kläffen Ihres Hundes stört ihn.“
Amy verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.
„Oh, London“, sagte sie. „Sie hätten wissen müssen, dass das nicht funktionieren würde. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie an Bord dieses Schiffes keinen Hund halten können. Sie hätten auf mich hören sollen.“
London unterdrückte den Drang, mit„Sie haben nichts dergleichen gesagt“ zu antworten.
Tatsächlich hatten sie überhaupt nicht über dieses Thema gesprochen.
Aber sie war nicht überrascht, dass Amy ihre Notlage genoss. Erst am Vortag hatte sie praktisch im Alleingang den geheimnisvollen Tod einer Passagierin und das Verschwinden einer kostbaren antiken Schnupftabaksdose aufgeklärt. Ihre improvisierte Tätigkeit als Amateurdetektivin hatte dazu geführt, dass die Polizei in Györ den Schuldigen hatte festnehmen können.
Es war Amy immer noch peinlich, dass sie sich in den Täter – oder zumindest in eine seiner vielen Persönlichkeiten – verliebt und ihn sogar an Bord eingeladen hatte. Amy hatte sich bis über beide Ohren in eine der Tarnidentitäten des Schurken verknallt.
London hatte diesen Fehler publik gemacht, als sie das Verbrechen gelöst hatte.
Wobei Amy und ich von Anfang an nicht das beste Verhältnis hatten.
„Wie wollen Sie damit umgehen?“, verlangte Amy zu wissen.
„Ich weiß es nicht“, gestand London.
„Brauchen Sie Hilfe?“
Ihre Hilfe ist das Letzte, was ich brauche, hätte London beinahe gesagt.
„Nein. Sie haben doch sicher schon genug zu tun“, entgegnete sie stattdessen.
„Sie werden den Hund natürlich loswerden müssen“, wiederholte Amy.
„Schauen wir mal“, versetzte London und dachte verzweifelt über eine Alternative nach.
Während Amy sich entfernte, wanderte Londons Blick zurück zum Schwimmbecken. Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wasseraerobic-Kurses hatten offenbar Spaß. Dasselbe galt für ein paar andere Passagierinnen und Passagiere, die an der Reling standen und auf die schöne, blaue Donau hinausblickten, deren beider Ufer von dicht bewaldeten Hügeln gesäumt waren.
Sie war froh, so viel Zufriedenheit zu sehen. In den letzten paar Tagen war viel zu viel passiert, angefangen mit Mrs Klimowskis geheimnisvollem Tod. Dann war das Schiff voller Polizei gewesen, und die Ermittlungen hatten dazu geführt, dass sie einen Tag zu spät Richtung Wien abgelegt hatten. Die ganze Episode hatte an den Nerven aller Personen an Bord gezehrt. London wusste, dass es für sie noch viel zu tun gab, bis sich diese Reise wieder wie eine fröhliche, sorglose Flusskreuzfahrt in Europa anfühlte.
Aber was mache ich mit Sir Reggie?, fragte sich London, während sie sich abwandte und zum Aufzug eilte. Sie konnte ihn natürlich in Wien im Tierheim abgeben, aber …
Nein, das geht nicht, erkannte sie.
Das geht auf keinen Fall.
Es muss eine andere Möglichkeit geben.
London stieg auf dem untersten Passagierdeck des Schiffs, dem Allegrodeck, aus dem Aufzug. Die „klassischen“ Kabinen hier waren die preiswertesten auf dem gesamten Schiff. Nichtsdestoweniger waren sie sehr bequem und geschmackvoll ausgestattet. London war überrascht und erfreut gewesen, als man ihr eine dieser Kabinen zugewi