: Philipp Gurt
: Bündner Abendrot Ein Fall fu?r Giulia de Medici
: Kampa Verlag
: 9783311703242
: Ein Fall für Giulia de Medici
: 1
: CHF 12.60
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Abendrot spiegelt sich im See am Fuße des Haupterhorns. Während das Vieh friedlich weidet, blickt eine junge Frau ins Wasser. Sie sieht ein Gesicht, ihr eigenes, doch sie erkennt sich nicht. In der Hand hält sie ein blutiges Messer - und weiß nicht, warum ... Giulia de Medici, Chefermittlerin der Kantonspolizei Graubünden, wollte ein paar Tage in ihrer Hütte im Hochtal Sapün verbringen, in der Abgeschiedenheit der Berge, auch um ihre große Liebe Erkki zu vergessen. Doch dann steht mitten in der Nacht eine verstörte Frau mit einem blutverschmierten Messer vor Giulias Tür: Woher kommt sie? Ist sie Täterin oder Opfer? Braucht sie Hilfe, oder will sie Giulia etwas antun?Noch in derselben Vollmondnacht begeben sich Giulia und ihre Kollegin Nadia Caminada auf Spurensuche. Schnell wird klar, dass die Alpweiden nicht so verlassen sind, wie sie scheinen: Die Polizistinnen geraten in Lebensgefahr, und ihre Ermittlungen führen sie zurück bis ins Jahr 1984, als der Linthebene-Mörder im Unterland Angst und Schrecken verbreitete.

Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.

1


Mit unsicheren Schritten ging sie durchs Abendrot, das flammend ihr Gesicht und die Felswand hinter ihr erglühen ließ, deren Fuß sie talwärts gefolgt war, ehe sie die steilen Bergweiden erreicht hatte. Ihr linker Arm baumelte wie ein Stück fremdes Fleisch an der Schulter, ihr unverletztes Auge spiegelte stummes Grauen.

Unvermittelt blieb sie stehen, als wollte sie die Schönheit der Bergwelt bestaunen. Die weitläufigen Alpweiden atmeten lauwarm die Tageshitze aus, das Läuten der Glocken und Schellen war das einzige Geräusch in der Stille dieser Abgeschiedenheit. Ihr Blick wanderte talwärts über die Sommerweiden, durch die ein Wildbach purzelnd einen Trichter gezogen hatte. Ein paar Mutterkühe weideten mit ihren Kälbern nahe dem weiter unten gelegenen Bergsee, der, in einer Mulde eingebettet, die grellen Farben des Himmels einfing. Auf der anderen Seite des Baches graste das Galtvieh; zahlreiche Rinder, Jungstiere und Ochsen. Gemeinsam mit den Jährlingen und den Färsen punkteten sie dunkel das Grün.

Wieso sie Namen dafür wusste, war ihr schleierhaft, ebenso, warum sie sich inmitten dieser ihr fremden Bergwelt befand und vor allem, weshalb sie ein blutiges Messer umklammert hielt.

Was war geschehen?

Diese Frage wiederholte sich in ihrem Innersten wie das stetige Tropfen eines Wasserhahns. Und so wie jeder Tropfen nichts von dem davor gefallenen wusste, so wusste auch sie nicht, dass sie sich diese Frage schon viele Male gestellt hatte.

Sie blickte an sich herunter, so als gehörte dieser Körper nicht zu ihrem fragenden Geist; gebräunte Beine ragten aus kurzen Jeans, Füße steckten in leichten Bergschuhen, das linke Knie war aufgeschlagen. Ihr apricotfarbenes Shirt war dreckig und verzogen. Wer immer ich auch bin, dachte sie, ich muss sportlich und noch recht jung sein. Weshalb sie ihren linken Arm nicht bewegen konnte, wusste sie nicht. Beim erneuten Versuch ihn zu heben verspürte sie einen brennenden Schmerz in der Schulter.

»Vielleicht ist sie ausgekugelt?«, fragten ihre aufgeschwollenen Lippen stumm. Sie hob ihre rechte Hand mit dem Messer vors Gesicht und starrte es mit dem rechten Auge an, denn das linke war zugeschwollen. Ihre Gedanken und ihr Geist waren in einem Käfig eingesperrte Vögel, die vergeblich flatterten. Zudem war ihr übel und schwindlig, sodass sie sich übergeben musste.

Mit unrhythmischen Schritten und gefolgt von ihrem wachsenden Schatten, der sich mit dem Verschwinden des bergwärts kletternden Sonnenlichts allmählich hinter ihr auflöste, stieg sie die Flanke zum kleinen See hinab. In der baumlosen Weidenlandschaft setzte sie sich am seichten Ufer ins sattgrüne Gras. Nur noch mattorange leuchteten die lichten Anhöhen über ihr, während die Schattenberge bedrohlich anwuchsen, als wollten sie den Tag vollends verschlingen.

Unwillig legte sie das Messer zur Seite, beugte sich übers Wasser, das ihr Spiegelbild als dunkle Silhouette wiedergab, und trank gierig aus der hohlen Hand. Danach umklammerte sie sofort wieder den Schaft der Waffe, nur beäugt von zwei Kühen und deren Kälbern, die in gebührendem Abstand zu ihr standen und wegen der sie umschwirrenden Fliegen mit den Ohren wackelten.

Das Hirn der jungen Frau schien sich mitsamt ihrem Zeitgefühl verflüssigt zu haben. Sie kriegte keinen Gedanken zu fassen, während sie bewegungslos am Ufer saß. Nur ein tief in ihr verborgenes Gefühl schwappte zaghaft hoch, als die Dämmerung wie aus einer riesigen Salzmühle über die Szenerie gestreut wurde. Dabei überkam sie so etwas wie Friede, der sie an irgendetwas weit Entferntes erinnerte.

Erst als sich die Nacht wie ein Film auf ihre Haut legte, das Gras feucht vor Tau wurde und die Sterne auf dem rabenschwarzen Seelein so lebendig schimmerten, als fehlten sie am Himm