Prolog
Donnerstag,25. September1952
Chur, Untere Au
Toni, der Knecht, war wütend, und das zu Recht, wie er fand. Er schimpfte über den alten Bauern Prevost, denn dieser verreckte Khaib hatte ihn in der Dunkelheit losgeschickt, und zwar genau in dem Moment, als er sich in der Kammer hingelegt hatte. Nur deswegen lief er nun Richtung Untere Au. Die verlotterte kleine Rheinsäge, die er soeben hinter sich gelassen hatte, stand ebenso einsam inmitten von Wiesen und Äckern wie der alte Hof im Gebiet Riet-Bettlerküche, von dem er gekommen war. In der Ferne, zu seiner Linken, schimmerten die Lichter des Städtchens, das friedlich im dunklen Kranz von Bergen ruhte.
Am späten Vormittag hatte er in der prallen Herbstsonne das steile Bord beim Rheindamm gemäht, damit er am nächsten Tag den letzten Schnitt des Jahres einfahren konnte. Das karge Grün, durchzogen von harten, bitteren Stängeln, gab zwar kein Futter fürs Vieh, aber als Einstreu im Winter taugte es allemal. Nach der Mittagspause, in der er reichlich Brot und Speck gegessen und den sauren Most aus der bauchigen Bastflasche getrunken hatte, streckte er die müden Glieder im warmen Gras von sich und schlief ein.
Der Schrecken war groß, als er eine Stunde später erwachte. Die verlorene Zeit konnte er nur mit Müh und Not aufholen. Als er fertig war, packte er seinen speckigen Lederrucksack, verstaute die leere Mostflasche darin und eilte über die Felder. Beim Hof angekommen, bemerkte er, dass er die verreckte Sense vergessen hatte – ausgerechnet die neue, die er eigentlich nicht hätte nehmen dürfen. Vielleicht würde der Prevost ja bis zum nächsten Tag nichts merken, hoffte er. Vergebens. Der Bauer, sturer als sein griesgrämiger alter Muni, hätte ihm mit dem Rechenstecken den Scheitel neu gezogen, wäre er nicht sofort aus dem Näscht gestiegen und losmarschiert.
»Wär kai Grind hät, soll gefälligst laufen, du blöder Galöri, du!«, hatte der Prevost ihm hinterhergewettert, bevor er die Haustüre derart zuschlug, als dürfte sie nie mehr aufgehen.
»Elender Geizkragen!«, hatte Toni vor sich hin gefaucht. »Als hätt ich heute nicht mehr als genug geschafft für den himmeltraurigen Lohn und die karge Kammer, die im Winter so kalt ist wie das Herz deiner Frau selbst im heißesten Sommer. Die Sackratten sollen dich auffressen, bei lebendigem Leib.«
Zwanzig Minuten ging er nun schon auf dem Feldweg. Der Zorn in seinem Ranzen war nicht weniger geworden, als er endlich das Bord erreichte. Die Kühle der sternenklaren Herbstnacht hatte das Gras bereits feucht werden lassen. Eine so tiefe Stille lag über dem Churer Rheintal, als hätten sich alle Geräusche des Tages mitsamt dem Vieh zur Ruhe gelegt.
Der Knecht war sich sicher, irgendwo vor ihm, am Ende des gemähten Abschnitts, musste die Sense liegen.
»Am Tüfel as Ohr ab«, schimpfte er, als er sie nicht gleich entdeckte. Er zog die Militärtaschenlampe aus dem Hosensack und wollte sie gerade anknipsen, als vom Rheindamm der gellende Schrei einer Frau ertönte.
Toni riss die Schultern hoch. Angstvoll blickte er sich um. Die Wiesen und Äcker bildeten ein dunkles Mosaik. Einzig bei der zehn Fußminuten entfernten alten Gasfabrik sah er einen schwachen Lichtschein. Der Wald auf dem Rheindamm über ihm war zappenduster. Hinter dem Fluss erhob sich der mächtige Calanda, dessen Gipfelregionen beinahe dreitausend Meter erreichten und auf dessen höchster Alp er von Kindesbeinen an im Sommer als Hirte arbeitete.
Der Knecht hätte nicht behaupten können, dass er in seinen dreißig Lenzen bereits viele Schreie gehört hätte. Doch in dem hier lag Todesangst, da war er sich sicher. Liebend gerne hätte er deshalb Fersengeld gegeben, wie immer, wenn es auch nur etwas brenzlig wurde. Aber vielleicht war der Angreifer, falls es denn einen gab, ja bloß ein schwächlicher Städter, den er mit der scharfen Sägaza verscheuchen konnte? Dann, ja dann hätte er endlich was in den Beizen zu erzählen.
Er leuchtete das Bord vor sich aus, fand die Sense, nahm sie in seine kräftige Rechte und fühlte sich schon etwas sicherer.
Der Schrei musste vom schmalen Weg der Rheinpromenade gekommen sein. Toni sammelte all seinen Mut, stieg hoch und lief dann am Waldrand en