: Philipp Gurt
: Graubündner Schreie (ehemals: Der Puppenmacher) Landjäger Caminada und der Puppenmacher
: Kampa Verlag
: 9783311702665
: Ein Fall für Landjäger Caminada
: 1
: CHF 15.20
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Graubünden, 1952: In einer stillen Herbstnacht hört der Knecht Toni einen gellenden Schrei und macht kurz darauf eine verstörende Entdeckung. Mitten im düsteren Rheinwald vor den Toren Churs sitzt eine schöne junge Frau, an einen Baum gelehnt. Sie trägt ein weißes Kleid, in ihren Händen hält sie ein Sträußchen Herbstzeitlose. Wie eine Puppe sieht sie aus, ihr Lächeln ist zauberhaft. Aber das Fräulein ist tot. Und dann hört Toni einen zweiten Schrei ... Kein Zweifel: Hier ist Landjäger Walter Caminada gefragt, mit seinem untrüglichen kriminalistischen Gespür der beste Mann im Landjägerkorps Graubünden. Gemeinsam mit seinem Freund, Erkennungsfunktionär Peter Marugg, nimmt der Landjäger die Ermittlungen auf. Doch lange tappen die beiden Männer im Dunkeln. Handelt es sich um einen einzigen Täter, sind es mehrere? Was verbindet die Toten miteinander? Das Geheimnis, das die zwei Ermittler schließlich lüften, ist ein altes, ängstlich gehütetes: Alles begann vor über dreißig Jahren, auf einer kleinen Alm hoch in den Bündner Bergen ...

PHILIPP GURT wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf - eine Zeit, die er in seinem autobiographischen Buch Schattenkind (2016) verarbeitete, für das er 2017 mit dem Schweizer Autorenpreis ausgezeichnet wurde. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten. Mit zwanzig beendete er seinen ersten Roman, nun liegt der zwölfte vor. Schon als Kind hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar, so auch zuletzt in Bündner Alptraum, der 39 Wochen lang ununterbrochen auf der Schweizer Bestsellerliste stand. Derzeit schreibt Gurt am neuen Fall seiner Ermittlerin Giulia de Medici, der im Frühjahr 2022 im Kampa Verlag erscheint.

Prolog


Donnerstag,25. September1952

Chur, Untere Au

 

Toni, der Knecht, war wütend, und das zu Recht, wie er fand. Er schimpfte über den alten Bauern Prevost, denn dieser verreckte Khaib hatte ihn in der Dunkelheit losgeschickt, und zwar genau in dem Moment, als er sich in der Kammer hingelegt hatte. Nur deswegen lief er nun Richtung Untere Au. Die verlotterte kleine Rheinsäge, die er soeben hinter sich gelassen hatte, stand ebenso einsam inmitten von Wiesen und Äckern wie der alte Hof im Gebiet Riet-Bettlerküche, von dem er gekommen war. In der Ferne, zu seiner Linken, schimmerten die Lichter des Städtchens, das friedlich im dunklen Kranz von Bergen ruhte.

Am späten Vormittag hatte er in der prallen Herbstsonne das steile Bord beim Rheindamm gemäht, damit er am nächsten Tag den letzten Schnitt des Jahres einfahren konnte. Das karge Grün, durchzogen von harten, bitteren Stängeln, gab zwar kein Futter fürs Vieh, aber als Einstreu im Winter taugte es allemal. Nach der Mittagspause, in der er reichlich Brot und Speck gegessen und den sauren Most aus der bauchigen Bastflasche getrunken hatte, streckte er die müden Glieder im warmen Gras von sich und schlief ein.

Der Schrecken war groß, als er eine Stunde später erwachte. Die verlorene Zeit konnte er nur mit Müh und Not aufholen. Als er fertig war, packte er seinen speckigen Lederrucksack, verstaute die leere Mostflasche darin und eilte über die Felder. Beim Hof angekommen, bemerkte er, dass er die verreckte Sense vergessen hatte – ausgerechnet die neue, die er eigentlich nicht hätte nehmen dürfen. Vielleicht würde der Prevost ja bis zum nächsten Tag nichts merken, hoffte er. Vergebens. Der Bauer, sturer als sein griesgrämiger alter Muni, hätte ihm mit dem Rechenstecken den Scheitel neu gezogen, wäre er nicht sofort aus dem Näscht gestiegen und losmarschiert.

»Wär kai Grind hät, soll gefälligst laufen, du blöder Galöri, du!«, hatte der Prevost ihm hinterhergewettert, bevor er die Haustüre derart zuschlug, als dürfte sie nie mehr aufgehen.

»Elender Geizkragen!«, hatte Toni vor sich hin gefaucht. »Als hätt ich heute nicht mehr als genug geschafft für den himmeltraurigen Lohn und die karge Kammer, die im Winter so kalt ist wie das Herz deiner Frau selbst im heißesten Sommer. Die Sackratten sollen dich auffressen, bei lebendigem Leib.«

Zwanzig Minuten ging er nun schon auf dem Feldweg. Der Zorn in seinem Ranzen war nicht weniger geworden, als er endlich das Bord erreichte. Die Kühle der sternenklaren Herbstnacht hatte das Gras bereits feucht werden lassen. Eine so tiefe Stille lag über dem Churer Rheintal, als hätten sich alle Geräusche des Tages mitsamt dem Vieh zur Ruhe gelegt.

Der Knecht war sich sicher, irgendwo vor ihm, am Ende des gemähten Abschnitts, musste die Sense liegen.

»Am Tüfel as Ohr ab«, schimpfte er, als er sie nicht gleich entdeckte. Er zog die Militärtaschenlampe aus dem Hosensack und wollte sie gerade anknipsen, als vom Rheindamm der gellende Schrei einer Frau ertönte.

Toni riss die Schultern hoch. Angstvoll blickte er sich um. Die Wiesen und Äcker bildeten ein dunkles Mosaik. Einzig bei der zehn Fußminuten entfernten alten Gasfabrik sah er einen schwachen Lichtschein. Der Wald auf dem Rheindamm über ihm war zappenduster. Hinter dem Fluss erhob sich der mächtige Calanda, dessen Gipfelregionen beinahe dreitausend Meter erreichten und auf dessen höchster Alp er von Kindesbeinen an im Sommer als Hirte arbeitete.

Der Knecht hätte nicht behaupten können, dass er in seinen dreißig Lenzen bereits viele Schreie gehört hätte. Doch in dem hier lag Todesangst, da war er sich sicher. Liebend gerne hätte er deshalb Fersengeld gegeben, wie immer, wenn es auch nur etwas brenzlig wurde. Aber vielleicht war der Angreifer, falls es denn einen gab, ja bloß ein schwächlicher Städter, den er mit der scharfen Sägaza verscheuchen konnte? Dann, ja dann hätte er endlich was in den Beizen zu erzählen.

Er leuchtete das Bord vor sich aus, fand die Sense, nahm sie in seine kräftige Rechte und fühlte sich schon etwas sicherer.

Der Schrei musste vom schmalen Weg der Rheinpromenade gekommen sein. Toni sammelte all seinen Mut, stieg hoch und lief dann am Waldrand en