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An einem erfrischend kühlen, wunderbar klaren Herbstabend war Amos Decker von Toten umgeben. Was jedoch fehlte, war das stahlblaue Licht, das er in solchen Situationen sonst jedes Mal sah.
Und das hatte seinen guten Grund: Diese Toten waren nicht erst kürzlich verstorben.
Er war in seine Heimatstadt Burlington, Ohio, zurückgekehrt, eine triste alte Industriestadt, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Davor hatte er sich in einer anderen kleinen Stadt im Rostgürtel im Nordosten derUSA aufgehalten – in Baronville, Pennsylvania, um genau zu sein, wo er nur knapp dem Tod entronnen war, denn Baronville hatte sich als wahres Minenfeld erwiesen. Wenn es nach ihm ginge, würde er solche Todeszonen und Bereiche des Schreckens für lange Zeit meiden, vorzugsweise für den Rest seines Lebens.
Nur blieb ihm diesmal nichts anderes übrig, als in ein Reich düsterer Erinnerungen zurückzukehren.
Decker war nach Burlington gekommen, weil heute der vierzehnte Geburtstag seiner Tochter Molly war. Unter normalen Umständen wäre es ein Freudentag gewesen, doch Molly war ebenso wie Deckers Frau Cassie und sein Schwager Johnny Sacks vier Jahre zuvor ermordet worden. Der erschütternde Vorfall hatte sich kurz vor Mollys zehntem Geburtstag ereignet. Der ahnungslose Decker hatte die drei entstellten Leichen im Haus der Familie aufgefunden.
Jemand hatte sie auf brutalste Weise abgeschlachtet. Für immer und ewig aus seinem Leben gelöscht. Weil irgendein krankes, perverses Gehirn es so gewollt hatte. Der Mörder weilte ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden, was Decker jedoch kein bisschen trösten konnte, auch wenn er selbst für den Tod des Killers verantwortlich war.
Deshalb fand der Geburtstagsbesuch für Molly auf einem Friedhof statt. Ohne Kerzen, ohne Lachen, ohne Geschenke. Nur mit frischen Blumen auf dem Grab anstelle der alten, die längst verrottet waren.
Falls es möglich war, würde Decker an jedem Geburtstag seiner Tochter hierherkommen, bis er seiner Familie eines Tages ins Grab nachfolgte. Mollys Geburtstag war so ziemlich der einzige Fixpunkt, der in seinem Leben geblieben war.
Er verlagerte sein enormes Gewicht auf der Bank aus Holz und Schmiedeeisen, die neben den beiden Gräbern stand, und drehte sich leicht zur Seite, denn Molly lag neben Cassie, ihrer Mutter. Die Bank war vom Burlington Police Department gestiftet worden, dem Decker einst angehört hatte, zuerst als Streifenpolizist, später als Detective der Mordkommission. An der Bank war ein verwittertes Messingschild angebracht:Zum Gedenken an Cassie und Molly Decker.
Der Friedhof war menschenleer, bis auf Decker und seine Kollegin beimFBI, Alex Jamison. Sie war mehr als ein Dutzend Jahre jünger als der Mittvierziger Decker. Während er neben den Gräbern saß, stand sie ein Stück abseits, um ihn mit seinen Lieben und seinen Gedanken allein zu lassen.
Jamison hatte als Journalistin gearbeitet, bevor sie dieFBI-Akademie in Quantico, Virginia, absolviert