Sommer 1961
Das Fremdwort der Saison
Anlass: Bei einem informellen Treffen einiger Schriftsteller der Gruppe 47 mit Willy Brandt wird entschieden, ihn bei seinem Wahlkampf zur Bundestagswahl 1961 zu unterstützen.
1.
Was aus informierten Kreisen dringt
Ich bin Abonnent bei mehreren Lieferanten, die sich auf schonungsvolle Zubereitung zeitgeschichtlicher Ereignisse verstehen. Meine Lieferanten in Bild, Ton und Prosa sind seriös, also wissen sie: Das Wichtigste bei der Meinungsfreiheit ist, dass man sie nicht missbraucht. (Manche Kühe – das beobachtet der Landwirt mit Sorge – bleiben viel weiter vom geladenen Zaun, als sie eigentlich müssten. Das kommt vom Respekt. Dadurch entgeht ihnen natürlich Gras. Und uns Milch.)
Man gewöhnt sich an Diät. Und wenn es den Abonnenten einmal überkommt, kauft er sich was Scharfes für eine Mark oder hört Auslandssender.
Um nicht im Bilde zu bleiben: Immer im Wahljahr zeigen sich bei mir die Folgen. Ich soll wählen, nachdem ich drei, vier Jahre eingelullt worden bin. Ich soll sagen, ich sei so zufrieden, wie sie mir sagen, dass ich sein soll. Ich soll nachsagen: Es-geht-allen-so-wie-noch-nie-ist-es-allen-so-wie-esjetzt-allen-geht. Da und dort noch ein Stäubchen. Man würde sich genieren, auf so was auch noch hinzuweisen. Das wissen die doch selber. Soo wichtig ist Globke auch wieder nicht.
Es gibt natürlich in jeder Zeit Magenkranke, Querulanten, Unverbesserliche, Leute ohne Epochengefühl, Bequemlinge, die es nicht hören wollen, dass wir in einer «Auseinandersetzung stehen», man kennt diese Sorte. Für solche hält sich die Regierung eine Opposition. Machte sich bisher ganz gut. Plötzlich hat sich die Regierung anders entschlossen. Meine Lieferanten haben das gleich begriffen. Inzwischen weiß es jeder: Es gibt keine Opposition mehr. Anno 57, Erich Ollenhauer und seineSPD, das war beste Opposition. Es war wie in einer Demokratie damals. Gute alte Zeit.
Es ist ja so: Viel mehr als einen Satz kann man einem Volk pro Jahr nicht zumuten. Und in diesem Jahr hat man sich für den Satz entschieden: DieSPD ist keine Alternative. Man weiß dann schon, dass der Zeitgenosse mit schöner Logik daraus schließt: Also … noch drei Buchstaben, und er hat es. Früher pflegten die Regierenden und Mitregierenden an Außenstehende die Frage zu richten: Wo bleibt da das Positive? Jetzt heißt die Frage: Wo bleibt da die Alternative? Das schöne zweischneidige Fremdwort. Jeder brave Vater bringt es abends heim und sagt es einmal – zur Übung – seiner Familie vor. Ich weiß, ich weiß, sagt die Frau und zeigt es ihm in der Zeitung.
Weil ich mir in Wahljahren besondere Wachsamkeit anbefehle, hielt ich das mit dem Fremdwort für einen Einfall meiner Diätköche. Sie sind zu besorgt um mich, dachte ich. Sie wollen es diesmal ganz schmerzlos machen. Ein großer Betäubungsversuch im Mai, dass die Wahl schon im Juni sozusagen entschieden ist. Es muss sich dann keiner im Urlaub Gedanken machen.
Es ist nicht so, dass ich vorsätzlich nach Alternativen Ausschau halte. Bloß, ich wähle so gern. Auch anno 57 hat keiner befürchten müssen, dass die Wahl in ein schreckliches Morgenrot führe. Aber wir hatten unsere demokratische Spielfreude. Verstehe ich aber das Fremdwort der Saison so, wie es jetzt im Schwange ist, dann wäre es doch besser, am 17. September denHSV noch einmal gegen Barcelona spielen zu lassen, da stünde wenigstens etwas auf dem Spiel. Ist aber dieSPD keine Alternative mehr, dann ist die Wahl am 17. September eine ungerechtfertigte Sonntagsbelästigung.
Eingelullt von dreijähriger Schonkost und nun auch noch lokal anästhetisiert für den 17. September durch den Gassenhauer von der fehlenden Alternative, ziehe ich aus, um die Alternative zu suchen.
2.
Wahlrede