Halbzeit
(Auszug)
Es muß schön sein, wenn man sich’s leisten kann, sich vor einem Beruf zu drücken, sagte Susanne.
Das kann sich jeder leisten, sagte ich großspurig.
Meinen Sie, sagte Susanne und sah mich feindselig an. Sie habe einen Onkel in Breslau gehabt, sagte sie, Onkel Herbert, bei dem konnte man Vogelfutter und Hundekuchen und Wellensittiche kaufen. Der hat 1936 einen großen Käfig ins Schaufenster gestellt. In dem Käfig lebten eine Katze und eine Blaumeise. Onkel Herbert hatte die beiden so aneinander gewöhnt, daß sie aus einem Tiegel fraßen. Aber sein Ladengehilfe, derHJ-Führer war, wechselte eines Morgens die Katze aus, als mein Onkel gerade nicht im Laden war, und als der Onkel zurückkam, war die Blaumeise tot. Außen am Schaufenster klebte ein großer Zettel, auf dem stand: So geht es, Herr Schwedenser, wenn die Rasse sich rührt.
Schon wollte ich einwenden, daß die Idee des Onkels, falls er mit seinem Käfig etwas Symbolisches im Auge hatte, eine sehr unglückliche Idee gewesen sei, aber Susanne, die jetzt Gott sei Dank viel leiser geworden war, sprach sofort weiter. Um diese Zeit sei sie in Kolumbien gewesen. Onkel Herbert habe einen Brief um den anderen geschrieben, aber ihre Eltern hätten immer zurückgeschrieben, wovon denn er, der zoologische Händler, in Bogotá leben wolle? Onkel Herbert fuhr dann nach Budapest, wurde Lotterieeinnehmer. Ein paar Jahre später brachte man ihn nach Auschwitz, wo er, Sie wissen ja.
Mhm.
Sie hob ihre Stimme an und leierte rasch herunter, was sonst noch passiert war. Sie sprach, als stünde sie unter einem ihr widerlichen Zwang, als erzähle sie gegen ihren Willen die Geschichte eines langweiligen Sonntagsausflugs. Und weil sie so hastig sprach, so, als sei es sinnlos, bei irgendeinem Punkt länger zu verweilen, wirkte alles wie ein Trickfilm, der zu schnell läuft, ein Trickfilm, in dem Bewegungen von Heeren dargestellt werden mit Männchen, Pfeilen und gestrichelten Linien, der Globus drehte sich, Breslau ein roter Punkt, Jahreszahlen schossen auf, begannen zu glimmen, zu brennen. Herr Schmolka griff seine Frau an der Hand, sie hielt es noch für eine alltägliche Zärtlichkeit, er aber zog sie über den Globus hinüber, hinab nach Kolumbien. Wievielmal fliegt einem da Ruß ins Auge, daß es tränt? Die Münder der Direktoren in Bogota straffen sich unter den Bärtchen, öffnen sich dann aber wieder, als Herr Schmolka aus der gerade in Hamburg gekauften Offenbacher Mappe die Papiere hervorholt. Dies ist zwar eine Zementfabrik, mein Herr. Aber immerhin ein deutscher Chemiker. Bereut er alles? Oder warum sonst sagt er seiner Frau ins Gesicht, daß sie ohne ihn in Dachau säße? Was jetzt geschieht, hätte auch in Breslau geschehen können. Dann hätte aber Frau Schmolka keine so weite Reise gehabt, bis sie mit der zweijährigen Susanne wieder bei ihrer Mutter war. Die führt sie gleich wieder auf den Breslauer Bahnhof und fährt selbst mit. Vorsichtig über die Perrons des Schlesischen äugend, zieht sie Tochter und Enkelin hinter sich in die U-Bahn. Zum Anhalter. Und nach Genua. Das kleine Schiff hastet wieder über das Meer. Herr Schmolka ist überrascht. Er stellt seine Frau vor, Lissi, geborene Spiegel, aus Köln. Die Schwiegermutter bietet ihm allen Schmuck an. Aber was soll er mit zwei Frauen? Das geht doch nicht.