Emilia
Ächzend ließ sich Emilia auf die kleine Holzbank am Straßenrand plumpsen. So hatte sie sich ihren Neuanfang wirklich nicht vorgestellt. In den schillerndsten Farben hatte sie sich ausgemalt, wie sie in dem hautengen, viel zu teuren Kostüm, in das sie nur hineinpasste, weil sie drei Wochen strengste Diät gehalten hatte, einen triumphalen Neustart in die beste Phase ihres Lebens hinlegen würde. Mit perfektem Make-up, schlanker Figur, einem strahlenden Lächeln und sündhaft teuer manikürten Fingernägeln hatte sie sich fest vorgenommen, einen perfekten Eindruck zu hinterlassen. Nicht nur bei Matthias Plaschke, der die Immobilienfirma leitete, in der sie nun seit knapp einer Stunde probeweise angestellt war, sondern insgesamt bei allem und jedem, der ihr begegnen würde. Vor allem bei den Einwohnern dieses winzigen Örtchens namens Edelsbrunn, in dem sie künftig ihr Dasein fristen wollte. Vorerst. Denn was sie bisher von dem verschlafenen Nest gesehen hatte, war ehrlich gesagt nicht besonders vielversprechend. Eher so Markeschlafender Hund alssteppender Bär, dachte sie mit einem Hauch Sarkasmus. Doch sie wollte sich nicht beklagen. Schließlich hatte sie selbst diesen Ort ausgewählt. Und das einfach nur deshalb, weil er weit genug weg war.
Wenn schon weg, dann auch richtig weit, hatte sie beschlossen, bevor sie die Flucht ergriffen hatte.
In diesem winzigen Nest würde sie garantiert niemand suchen und schon gar keiner finden, der sie nicht finden sollte.
Blieb nur zu hoffen, dass dieser Plan besser aufgehen würde als derjenige mit dem guten Eindruck, denn nachdem sie sich inzwischen eine Dreiviertelstunde in den viel zu hohen und dazu noch viel zu kostspieligen Pumps über das Kopfsteinpflaster gekämpft hatte, war ihr Make-up keineswegs mehr perfekt und von strahlendem Lächeln konnte keine Rede sein. Stattdessen verrutschte ständig der Rock ihres Kostüms und kleine Rinnsale von Schweiß liefen ihr über das Gesicht und die Wirbelsäule entlang. Aus dem akkurat geformten Dutt hatte sich eine hellblonde Strähne gelöst und klebte nun unangenehm an ihrer schweißnassen Schläfe. Sie konnte nur hoffen, dass der Kajalstrich, mit dem sie ihre dunkelblauen Augen bewusst betont hatte, noch nicht in seine Bestandteile zerflossen war und ihre Schuhe hatte sie bereits so viele Male verflucht, dass es ein Wunder war, dass sie noch nicht in Flammen aufgegangen waren. Dabei brannten ihre Füße tatsächlich, als ginge sie durch loderndes Feuer. Vielleicht wäre es besser gewesen, auf Schuhe mit niedrigeren Absätzen zurückzugreifen, doch bei einer Körpergröße von nur einem Meter sechzig war sie seit ihrer Jugend daran gewöhnt, ein paar Zentimeter dazu zu schummeln und außerdem war man hinterher immer schlauer. Ein Auto, das wäre der Ausweg gewesen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ohne Auto zu fliehen? Jeder popelige Bankräuber wusste, dass ein Fluchtauto das Wichtigste war. Stattdessen hatte sie völlig überhastet ihren Koffer gepackt und war mit der Bahn quer durch Deutschland gefahren. Nur, um schlussendlich in einem winzigen Ort namens Edelsbrunn ausgespien zu werden wie Jona von seinem Walfisch. Herzlichen Glückwunsch aber auch!
Frustriert nahm Emilia die kleine Wasserflasche aus ihrer viel zu großen Handtasche und trank den letzten sorgsam aufgesparten Schluck in einem gierigen Zug aus.
Warum hatte sie nur auf ihre neue Kollegin hören müssen? Frau Sill hieß sie. Ein Name, den sie sich würde merken müssen, denn offensichtlich hatte diese Person aus unerfindlichen Gründen innerhalb kürzester Zeit beschlossen, sie zu hassen. Warum sonst hätte sie Emilia versichern sollen, dass es nur ein Katzensprung vom Immobilienbüro bis zur Villa Gleißner sei, den man locker zu Fuß bewältigen konnte? Diese Behauptung war offensichtlich eine Lüge gewesen. Zwar hatte sich Emilia inzwischen auch ein paarmal gehörig verlaufen und wusste zugegebenermaßen nicht mit Sicherheit, ob sie auf dem richtigen Weg war, doch wenn es sich wirklich nur um einen Katzensprung gehandelt hätte, dann hätte sie längst ankommen müssen – Orientierungsverlust hin oder her. Und jetzt hatte sie nicht einmal mehr etwas zu trinken. Wenigstens befand sie sich inzwischen in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt. Zumindest vermutete sie das, da immer mehr Menschen zu sehen waren, die, mit Tüten und Taschen bepackt, in verschiedene Richtungen strömten. Vereinzelt standen kleine Grüppchen beieina