New York City, Mittwoch, 13. Dezember 1905
„Tis the season to be jolly“, sangen die Sternsinger vor der Grace Church, während auf der anderen Seite des Broadway die Kapelle der Heilsarmee „God rest ye merry gentlemen“ schmetterte. Es schien, als wäre ganz New York City plötzlich vom Geist der Weihnacht erfasst. Ich manövrierte Liams Kinderwagen den gedrängten Bürgersteig entlang und achtete darauf, dass Bridie dicht bei mir blieb. In einer solchen Menge konnte man nicht vorsichtig genug sein. Alle waren beladen mit Paketen und Körben voller Lebensmittel, die man braucht, um für die Feiertage zu kochen. Es war ein Jahr des Optimismus’ gewesen: Präsident Roosevelt war für seine erste volle Amtszeit gewählt worden und die Gebrüder Wright hatten der Welt gezeigt, dass ein Flugzeug wirklich für mehr als ein paar Sekunden am Himmel bleiben konnte. Wir befanden uns eindeutig im Zeitalter des Fortschritts.
Ich zog Bridie vom Straßenrand zurück, als ein Automobil vorbeifuhr und Schneematsch und Dreck emporspritzte. So viel zum Zeitalter des Fortschritts, dachte ich, als etwas davon auf meinem Rock landete. Es hatte in der Nacht zuvor geschneit, der erste Schnee des Jahres, was für eine Atmosphäre der Aufregung gesorgt hatte, bis die Sonne aufgegangen war und angefangen hatte, ihn zum Schmelzen zu bringen, was die Gehwege glitschig und dreckig machte und es erschwerte, darauf zu navigieren. Als wir die Ecke der 10th Street erreichten, waren die jungen Bettelkehrer an der Kreuzung geschäftig bei der Arbeit und befreiten einen Weg von Schneematsch, sodass wir Damen die Säume unserer Röcke nicht beschmutzten.
Frohe Weihnachten. Gott segne Sie, Lady“, riefen sie und hielten uns raue, kleine Hände hin, die von Frostbeulen bedeckt waren. Ich fühlte mich schuldig, weil ich nicht einen oder zwei Pennys im Anschlag hatte, aber die Wahrheit war, dass es zu viele von ihnen gab. Wie sollte ich denn einen auswählen? Und es waren nicht nur die Bettelkehrer an den Kreuzungen, die ihre Hände ausstreckten. Dort am Broadway gab es alle paar Yards Bettler aller Art, von zusammengekauerten Frauen bis hin zu bemitleidenswerten Kindern. Dann waren da jene, die wie die Bettelkehrer eine Stufe über den Bettlern standen – Zeitungsjungen und Blumenverkäuferinnen mit ihren winzigen Mistel- oder Stechpalmenzweigen. Es gab einfach zu viele von ihnen. Es war nicht für ganz New York ein Jahr des Fortschritts gewesen, das war deutlich genug. Es kamen immer noch tausende Einwanderer, drängten sich in die bereits gerammelt volle Lower East Side und versuchten, ihre Familien auf egal welche Weise zu ernähren – viele davon, indem sie ein paar Eier, gerösteten Mais oder Schnürsenkel von einem Handkarren aus verkauften. Ich kam an einem Stand mit dem verführerischen Aroma gebackener Kartoffeln vorbei. Etliche Jungen standen darum herum und streckten ihre Hände der glühenden Kohle entgegen, bis der Besitzer sie vertrieb.
Als wir uns vom Chor der Sternsinger entfernten, die gegen die Kälte in Schals und Mäntel gehüllt waren, fiel mir eine andere Stimme auf – leise, hoch und wunderschön.
„Away in an manger, no crib for a bed“, sang sie. „The little Lord Jesus laid down his sweet head.“
Bridie hörte es ebenfalls und zupfte an meinem Ärmel. „Schauen Sie, dort drüben“, sagte sie.
Ich sah hin. Ein kleines Mädchen saß zusammengekauert an der Tür von Daniell’s Haberdashery Store und trug nur einen dünnen Mantel gegen die Kälte. Sie hielt einen Zinnbecher in der Hand, während sie sang, aber die Leute gingen an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken.
„Glauben Sie, sie ist ein Engel, der für Weihnachten auf die Erde gekommen ist?“, flüsterte Bridie mir zu.
Sie sah in der Tat wie einer aus. Sie hatte beinahe weißblondes Haar und große, blaue Augen in einem kleinen herzförmigen Gesicht, und ihre Stimme war so rein und lieblich, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
„Wir müssen ihr etwas geben“, sagte Bridie entschlossen, aber ich steckte bereits eine Hand in meine Handtasche.
„Geh und gib ihr das“, sagte ich und reichte ihr einen Quarter.
Sie betrachtete ihn kritisch, als glaubte sie, es müsse mehr sein, dann nahm sie ihn und schoss durch die Menge, um ihn dem Mädchen in den Zinnbecher zu werfen. Das Kind sah auf und lächelte Bridie engelsgleich an. Ihr Blick fiel auf mich und ich empfand ein seltsames Gefühl von Verbundenheit.
Bridie bahnte sich einen Weg zurück durch die Menge, um sich am Kinderwagen festzuhalten. „Sie sieht aus, als würde sie sehr frieren“, sagte sie. „Könnten wir ihr nicht ein paar meiner Sachen geben? Ich weiß, sie wären ihr zu groß, aber wenigstens wäre ihr dann warm. Vielleicht könnte ihre Mami sie auf ihre Größe anpassen.“
Ich blickte zurück. „Sie hat vermutlich keine Mami“, sagte ich. „Keine Mutter würde ihr kleines Kind bei diesem Wetter draußen betteln lassen. Sie ist ziemlich sicher eine Waise.“
„Wie traurig“, sagte Bridie. „Niemanden auf der Welt zu haben, der sich um einen kümmert. Das ist nicht fair.“
„Ich fürchte, das Leben ist nicht fair“, sagte ich. Ich b