1Von namenlosen Wassermännern
»Da! Da ist es, das Kraabniinje! Es denkt, wir sehen es nicht, wenn es im Dreck hockt.«
»Es ist eben dumm, das Kraabniinje.«
»Dabei soll es schon acht Jahre sein. Acht Jahre und so dumm!«
»Das ist eben so, wenn man ’nen Wassermann zum Vater hat.«
Die johlende Kindermeute umringte das Mädchen, das im Sand hockte, dort, wo die Ebbe schwarzen Schlick in einer Pfütze hinterlassen hatte. Es hatte die Arme um die Knie geschlungen und balancierte geschickt auf seinen bloßen Zehen. Dadurch wirkte die kleine Gestalt seltsam leicht in ihrem Gleichgewicht zwischen Sand und Himmel. Ihre Haltung erinnerte tatsächlich an die Kaninchen, die in den Dünen zu Hause waren. Sogar ihre dunklen Locken, die nicht einen, sondern zwei Wirbel hatten, ließ der Wind wie Kaninchenohren hochstehen.
»Da hockt es und tut so unschuldig!« Ein Junge trat heftig mit dem Fuß in den Sand und ließ feuchte Brocken so hoch fliegen, dass sie das Mädchen am Rücken trafen. »Dabei ist der Kutter vom Henner Fredriksson nur wegen ihm gesunken! Wär es nicht hier, wär der Sturm nicht gekommen und der Otto hätte seinen Vater noch.«
»Was meinst du, Björn, wenn wir es in der nächsten Flut versenken, ob dann kein Sturm mehr kommt?«, fragte ein anderer.
Der Spitzname machte Rhea keine Angst. »Niinje« hatten Kinder die Kaninchen schon immer genannt. Auch ihre Mutter Filine nannte sie manchmal zärtlich so. »Keine Angst, mein Niinje!« Und auch das »Kraab«, das man nun davorgesetzt hatte, war für Rhea kein Schimpfwort. Die Strandkrabben waren ihre Freunde, vor allem die jungen, daumennagelgroßen, die sich in den Muschelhaufen im Watt versteckten und deren Existenz nur die wenigsten bemerkten. Für Rhea waren es ihre Spielkameraden, die Freunde, auf die sie sich immer verlassen konnte, und dort zu Hause, wo auch sie zu Hause war.
Jede der winzigen Krabben trug ein anderes Muster auf dem Panzer. Manche hatten die Farbe des Sandes, andere waren schwarz wie der Schlick. Am spannendsten war, dass auf jedem Panzer kleine dunkle Kreuze, winzige weiße Pfeile, Striche und Punkte zu sehen waren. Als trüge jedes der kleinen Wesen eine Botschaft.
Es schien, dass die kleinen Krabben Rheas Zuneigung erwiderten. Als Rhea sie das erste Mal in einem Miesmuschelhaufen entdeckt hatte, waren sie noch schüchtern gewesen und hatten das Weite gesucht oder sich tief in die Muscheln verkrochen. Von da an saß Rhea ganz still und beobachtete nur, bis die zarten Wesen Zutrauen fassten und sich so bewegten, als wäre sie gar nicht da.
Und tatsächlich, nach einiger Zeit gab es unter den Krabben einzelne, die sogar über ihren Fuß liefen oder eine Pause machten und Rhea nachdenklich mit ihren winzigen intelligenten Knopfaugen betrachteten. Rhea gewöhnte sich an, ihnen ihre Sorgen zu erzählen und ihre Freuden mit ihnen zu teilen.
Einmal sollten die Kinder in der Schule über etwas berichten, was sie interessant fanden. Rhea erzählte von ihren Freunden, den winzigen Krabben. Niemand verstand sie, selbst die Lehrerin lächelte spöttisch. Seitdem galt Rhea nicht nur ihrer Herkunft wegen als »anders«.
Es störte sie nicht weiter. Sie machte es wie ihre wahren Gefährten, die Krabben und die Muscheln, und zog sich in sich zurück, bis wieder Ruhe war. Zwar hatte Rhea keine Schale und keinen Panzer, aber sie entdeckte, dass man sich auch in der Stille verkriechen