: Martin Walser
: Muttersohn
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644012417
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 512
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen. Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei. Mit diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten, einen Motorradlehrer, der sich allen Therapieversuchen stumm widersetzt. Dieser Patient heißt: Ewald Kainz. Percy ist inzwischen berühmt, weil er keiner Weltvernunft zuliebe verzichtet auf die von der Mutter in ihn eingegangene Botschaft vom Kind ohne leiblichen Vater. Berühmt auch durch seine prinzipiell unvorbereiteten Reden. Das ist sein Thema: Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin. In «Muttersohn» fügen sich Bekenntnisse und Handlungen zu einem Roman des Lebens: empfindungsreich, ironisch und schwerelos zugleich.

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

IDem Leben zuliebe


1.


Ewald, ich heiße Percy. Das sagte er, als er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Ewald hatte auf sein Klopfen nicht geantwortet. Percy sagte, das verstehe er. In der Geschlossenen Abteilung an eine Tür zu klopfen und auf ein Herein zu warten, sei heuchlerisch, da doch der Klopfende den Schlüssel habe, mit dem die Tür aufzuschließen sei.

Ewald lag auf dem gemachten Bett. Er lag auf dem Rücken. Die Augen offen. Die rechte Seite seines Gesichts war rot, vernarbt, die rechte Hand auch. Diese rechte Hand lag auf Ewalds Brust. Sie hielt ein Handy. Das konnte nur heißen, dass er auf etwas wartete, was aus dem Handy kommen musste. Percy sagte: Ich setz’ mich auf den Stuhl an deinem Tisch. Dann schwieg er. Er wartete nicht, er schwieg. Plötzlich richtete sich Ewald auf, schlüpfte in die schwarzen Schuhe, die unter seinem Bett standen, und legte sich wieder hin und schaute zur Decke. Es war klar, er wollte nicht, dass ihn jemand ohne Schuhe sähe. Schwarze Schlüpfschuhe, schwarze Socken, schwarze Hose, schwarzes, langärmliges Hemd. Als Manschettenknöpfe goldgefasste rote Steine. Karneol, dachte Percy. Das Handy hatte Ewald beim In-die-Schuhe-Schlüpfen in der Hand behalten.

So blieben sie. Stumm. Zwei Stunden lang oder drei. Dann stand Percy auf, ging zur Tür, schloss auf und sagte: Ich will nicht, dass du dich wunderst. Ich bin mit allen per du, seit ich hier in der Pflegerschule war. Der Professor hat mich Latein lernen lassen. Da gibt es kein Sie. Seit dem sag ich zu allen du. Es ist dann immer, als spräche ich Latein. So ein Gefühl halt. Bis bald, Ewald.

Als Percy draußen war, drehte er den Schlüssel so leise wie möglich im Schloss.

Zwei Empfindungen waren Percy fremd: Furcht und Ungeduld.

 

An einem solchen Maitag, der das Grün zum Leuchten brachte, waren die Waldwege im Klinik-Areal belebt. Patienten mit ihren Angehörigen, Patienten ohne Angehörige. Einmal wurde Percy sogar mit einem lauten Zuruf begrüßt von einem Pfleger, der eine Gruppe von Patienten zu einem Termin führte. Percy grüßte zurück. Ihm war noch rechtzeitig eingefallen, dass das Alfons war. Einaug Alfons. Der war mit ihm hier auf der Pflegerschule ausgebildet worden. Vielleicht sieht man sich noch, hatte Einaug Alfons gerufen. Das hoff’ ich schwer, hatte Percy zurückgerufen und hatte daran gedacht, dass Alfons inzwischen ein Auge eingebüßt hatte. In einem Kampf mit einem Tobsüchtigen. Der Professor, der ihm das erzählt hatte, hatte gesagt, Alfons habe sich nicht gewehrt. Und dass er sich nicht gewehrt habe, sei inzwischen Alfons’ Wappen. Beide hatten, was sie riefen, mit win