: Martin Walser
: Angstblüte
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644002418
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 480
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
«Eine Abrechnung mit dem Alter, das hemmungslos romantische Manifest einer aussichtslosen Liebe.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Karl von Kahn, Anfang 70, ist Anlageberater; das Geldvermehren ist sein Beruf, seine Kunst und Leidenschaft. Seine Energieformel lautet: 'Bergauf beschleunigen'. Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Doch dann verliert er seinen besten Freund, seine zwei Frauen. «Angstblüte» erzählt eine Geschichte von Alter und Täuschung und vom Geld, von Liebe, Ehe, Freundschaft - und von einem Leben, das sich von keiner Moral hemmen lässt, nur von sich selbst. «Ein Formulierungsfest.» (Neue Zürcher Zeitung) «Ein großer, ein sehr, sehr lesenswerter Roman.» (3sat) «Ungemein anrührende Bilder des zwischen größtem späten Lebensglück und größtem Unglück schwankenden Mannes.» (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) «Ein geistreicher und dazu hocherotischer Roman.» (Aspekte) «Mein Gott, Walser! Welche Wucht. Welche Kraft. Und was für ein Kunststück.» (SWR) «?Angstblüte? ein Alterswerk zu nennen hieße, die Vitalität und den Furor mit einer Milde und Abgeklärtheit zu betrachten, die sie weder fordern noch verdient haben ... Ein brennend aktueller Roman.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Martin Walser, 1927 in Wasserburg am Bodensee geboren, war einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis, 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l'Ordre des Arts et des Lettres» ernannt. Martin Walser starb am 26. Juli 2023 in Überlingen. 

Eins


1.


Es war Gundi. Sie klang, als sei jemand in ihrer Nähe, der nicht hören dürfe, was sie sagt. Man sah förmlich, wie sie den Kopf senkte, um Mund und Hörer möglichst dicht zusammenzubringen. Und verfügte doch in ihrem Schlößchen in der Menterschwaige über soviel Ungestörtheit, wie sie nur wollte. Eigentlich war sie entspannt. Die Gelassenheit selbst, sagte Diego, sei sie. Gelegentlich sprach er ihr sogar eine göttliche Gelassenheit zu. Aber heute gab es einen Grund für diesen Dringlichkeitston. Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus. Er konnte morgens nicht aufstehen, konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Sie hat den Notarzt gerufen, der hat Diego ins Schwabinger Krankenhaus bringen lassen, da liegt er jetzt seit achtundvierzig Stunden, die Ärzte können sich für keine Ursache entscheiden. Also Schlaganfall ist schon mal ausgeschlossen worden. MS noch nicht.

Als Karl von Kahn hörte, daß das schon vorgestern passiert war, konnte er ein zu lautes, fast klagendes Nein nicht zurückhalten.

Gundi sagte: Ja. Sagte das ganz matt.

Karl, eher heftig: Sag Lambert, ich komme sofort.

Karl, rief sie, Karl!

Er verstand nicht gleich und erfuhr, er habe Diego Lambert genannt. Das tue ihr weh. Jetzt, da Diego so elend daliege, ganz besonders.

Karl rief: Gundi, liebe Gundi, das tut mir so leid, wie ich es nicht sagen kann. Wisch es weg, hab es nicht gehört, laß es bedeutungslos sein. Ich bitte dich darum.

Gewährt, sagte sie.

Ich danke dir, Gundi, sagte er.

Also um drei, sagte sie.

Und Karl notierte: Haus 4, Abteilung 4a, Zimmer 4023. Um drei.

Gundi hauchte ein Ja.

Karl legte nach ihr auf, holte Atem und sagte es Helen weiter.

Die saß schon an ihrem Schreibtisch, der der Schreibtisch ihres Vaters war. Öfter sagte sie, wenn sie es noch zu etwas bringe, verdanke sie das ihrem zweiten Mann, der ihr erster Mann, ihr Mann überhaupt sei. Damit wollte sie sein Frühaufstehen rühmen. Karl von Kahn hatte es zur Lebensbedingung schlechthin gemacht, vor seinen Kunden auf zu sein, die Börsenkurse zu studieren, bevor seine Kunden sie studierten. Er hatte ganz unauffällig aus jedem seiner Kunden die Aufstehzeit herausgefragt. Vor sieben saß keiner vor dem Schirm. Also saß er um sieben vor dem Schirm. Also saß Helen um sieben an ihrem Schreibtisch. Sie war durch Karl zur Frühaufsteherin geworden. Das hätte, sagte sie, ihrem Vater sehr gefallen. Womit sie Karl wissen ließ, daß viel mehr, als ihrem Vater zu gefallen, nicht erreichbar war.

Als sie hörte, was Lambert passiert war, stand sie auf, kam zu Karl, der an der Tür ihres Arbeitszimmers stehengeblieben war, lehnte ihren Kopf an seine Brust und sagte: Mein armer Karl.

Karl sagte: Sag lieber, der arme Lambert.

Das war eine Lieblingsstellung: Ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren. Dazu gehörte, daß er seine Arme um sie legte und mit seinem Kinn in ihren Haaren hin- und herrieb. Das ging jetzt nicht.

Er sagte: Entschuldige, bitte.

Er richtete Helen vorsichtig auf, dann streichelte er sie. Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf die Balken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.

Der Freund hatte Lambert geheißen, als er vor Karl, der wieder einmal auf seinen von Schwermut geplagten Tennispartner hatte warten müssen, stehengeblieben war und gesagt hatte: Meine Partnerin kommt auch nicht, ich finde, jetzt spielen wir. Ich bin Lambert Trautmann. Das weiß ich doch, hatte Karl gesagt. Gedacht hatte er, das seh ich doch. Und Sie sind Herr von Kahn, der Bruder Ereweins, dem ich viel verdanke. Er Ihnen auch, sagte Karl. Das freut mich, sagte Lambert.