1. Kapitel
Mittwoch, Tag 5
Wieder einmal hatte er sich dem Kampf gegen seine Dämonen stellen müssen. Nur knapp war er vor einigen Monaten dem Tod von der Schippe gesprungen. Bei den privaten Ermittlungen gegen Christoph Laumann, der junge Frauen entführt, gefoltert und bestialisch ermordet hatte, war er dem Serienmörder gefährlich nahegekommen und am Ende selbst als Gefangener in dessen Folterkeller gelandet. Nur dem unermüdlichen Einsatz seiner alten Kollegen von der Kölner Mordkommission hatte er am Ende sein Leben zu verdanken. Doch nicht der Beinahetod warf ihn in den Wochen und Monaten danach völlig aus der Bahn. Kurz bevor die Polizei in den Keller stürmte, band ihm Laumann auf die Nase, dass Nina und Linda ihm ebenfalls zum Opfer gefallen waren.
Die beiden Menschen, die er im Leben am meisten geliebt hatte, waren fast sieben Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bis zu jener verhängnisvollen Nacht in Laumanns Keller war er davon ausgegangen, dass es sich bei dem Unfall um ein tragisches Unglück gehandelt hatte. Anschließend war er dem Alkohol verfallen, was ihn letztlich den Job gekostet hatte. Nina und Linda waren unfreiwillig Zeuginnen davon geworden, wie Laumann und dessen älterer Bruder eines der Opfer entführt hatten. Bei einer wilden Verfolgungsjagd war Ninas Wagen verunglückt.
Fünf lange Jahre hatte er – Lukas Sontheim, einer der angesehensten Polizisten des Reviers – im Suff gelebt und sich anschließend mühsam wieder ins Leben zurück-gekämpft. Bis Laumann vor fast einem Jahr dafür gesorgt hatte, dass er erneut den Boden unter den Füßen verlor. Nur dank unbändiger Willenskraft, den regelmäßigen Besuchen bei den Anonymen Alkoholikern und der Unterstützung von Jürgen Brenner, seinem Freund und ehemaligen Partner bei der Mordkommission, war es ihm gelungen, nicht wieder rückfällig zu werden. Das Geld vom Hausverkauf war mittlerweile aufgebraucht, seitdem hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Erst vor zwei Wochen hatte er wieder mit dem Lauftraining begonnen, auch das hatte er lange Zeit vernachlässigt. Das braune Haar war schon zottelig und schulterlang gewesen, doch vor Kurzem endlich wieder einer Frisierschere zum Opfer gefallen. Die neue modische Kurzhaarfrisur betonte seine weichen Gesichtszüge.
Gerade war er von der Arbeit im Supermarkt nach Hause gekommen, in dem er vormittags Getränke ins Regal räumte und Kisten stapelte, als sein Handy klingelte. Er benutzte immer noch das abhörsichere Smartphone, das ihm sein Kumpel Ali gegeben hatte, der IT-Spezialist und einstige Profi-Hacker. Dank seines Freundes war er auf die richtige Spur im Fall Laumann gekommen. Nachdem er den Schlächter überführt hatte, war der Kontakt zu Ali eingeschlafen. Er warf einen flüchtigen Blick aufs Display und war einigermaßen überrascht.
»Hey, Ali, wir haben uns ja ewig nicht mehr gesprochen. Was verschafft mir die Ehre?«, begrüßte er seinen alten Freund.
»Lukas, ich brauche deine Hilfe. Ich stecke gewaltig in der Scheiße«, flüsterte Andreas Lichtenstein, den Sontheim schon immer nur Ali nannte.
»Ich weiß ja, dass du unter einer gewissen Paranoia leidest. Aber dass du am Telefon flüsterst, ist selbst für dich ungewöhnlich«, versuchte er es mit einem Scherz. »Also gut, wie kann ich dir helfen?«
»Ich hab keine Zeit für lange Erklärungen. Komm einfach so schnell wie möglich her. Es … es ist wirklich wichtig. Überlebenswichtig.«
Schon war die Leitung tot.
Wenig später saß Sontheim hinter dem Steuer des klapprigen Mazdas und brauste los. Sein Ziel: die Sporergasse in der Kölner Altstadt.
Eine Viertelstunde später starrte er seinen Freund überrascht an. Ali, der sonst viel Wert auf sein Äußeres legte, stand leichenblass im Türrahmen, hatte sich den Bartstoppeln nach zu urteilen schon länger nicht mehr rasiert und tiefe dunkle Ringe unter den Augen. Offe