: Nicole Siemer
: Todessamen
: Empire-Verlag
: 9783752124552
: 1
: CHF 3.20
:
: Fantasy
: German
: 284
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

»Der Todessamen wird sprießen!«

Grubinge - ein Ort, der auf keiner Karte zu finden ist. Keine Ausschilderung führt dorthin, und doch lebt eine Gemeinde dort. Umgeben von einem Wald, der besser nicht betreten wird.Jessie lebt bereits seit ihrer Geburt in Grubingen. Einsam und mit sich selbst im Unreinen, hat sie den Tod ihrer Eltern nie verkraftet. Sie ist eine Waise und ihre Freundin Jenny lässt sie das auch regelmäßig spüren. Schon oft drohte Jessie, sich in ihrer Trauer zu verlieren, doch ein Geschenk ihrer Eltern, das sie zu ihrem fünften Geburtstag bekam, bewahrte sie davor: eine alte Ausgabe vonAlice im Wunderland. Die Geschichte wurde schnell zu einem Rückzugsort, der sie vor der realen Welt beschützte und träumen ließ.

Jessies Vorstellungskraft war schon immer enorm. So trat als Kind ein imaginärer Freund namens Sam an ihre Seite, gerade, als ihr das Leben im Heim unerträglich erschien. Nach einem verheerenden Zwischenfall schickte sie ihn jedoch weg und vergaß ihn sogar im Laufe der Jahre. Bis zu jenem heutigen Tage, an dem sie ihn plötzlich am Waldrand stehen sieht. Sie folgt ihm hinein in den gefährlichen Grubinger Forst und gelangt so in eine fremde Welt. In Sams Welt.

Nie hätte sie gedacht, dass ihr Wunderland tatsächlich existieren könnte. Und Sam ...

Was zunächst den Anschein einer Idylle erweckt, verwandelt sich schon bald in einen wahren Albtraum ...



Nicole Siemer wurde 1991 in Papenburg (Emsland, Niedersachsen) geboren und arbeitet hauptberuflich als Hörgeräteakustikerin. Heute lebt sie zusammen mit ihren zwei Katzen in Lingen (Ems). Bereits in der Grundschule hat sie ihre Liebe für fantastische Erzählungen und das Schreiben entdeckt. Seit dem Abschluss ihres Belletristik-Fernstudiums an der Schule des Schreibens 2017 widmet sie sich in erster Linie unheimlichen Geschichten mit philosophischem Einschlag.

Kapitel 1


 

Der Abgrund lockt sie. Und er jagt ihr eine Heidenangst ein.

Jessie lässt den Blick über ein Meer aus Schwärze schweifen und fragt sich, wie weit die Dunkelheit reicht.

Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder fallen und sterben, oder – nein, genau genommen bleibt nur diese Option.

Direkt vor ihr erstreckt sich ein Seil, kaum breiter als ihr großer Zeh. Es scheint ins Nichts zu führen.

Doch glänzen dort hinten nicht zwei Lichtpunkte, klein wie Glühwürmchen, regungslos in der Luft? Hin und wieder verschwinden sie, um kurz darauf erneut aufzutauchen.

Irgendetwas an diesen Punkten kommt Jessie bekannt vor, ja sogar vertraut, und sie zögert nicht lange, bis sie den Fuß auf das Tau setzt. Es ächzt und wölbt sich der Dunkelheit entgegen, aber es wirkt, als könnte es ihr Gewicht tragen. Und wenn nicht, falle ich eben bis zum Mittelpunkt der Erde oder gleich darüber hinaus, denkt sie. Vielleicht lande ich auf etwas Weichem wie einer Wolke oder Zuckerwatte.

Jessie schiebt den Gedanken zur Seite und konzentriert sich auf die beiden Lichtpunkte, die ein weiteres Mal kurz verschwinden und wieder erscheinen. Sie streckt die Arme zu beiden Seiten aus, nimmt einen tiefen Atemzug und setzt den zweiten Fuß auf das Tau. Erneut stöhnt es auf, protestiert unter der Last. Doch es hält.

Die Lichtkugeln erinnern Jessie an die Reflektoren eines Fahrrads, wenngleich ihre Farbe eher grünlich statt gelb ist. »Leuchte, guter Mond, leuchte«, sagt sie und macht einen weiteren Schritt. Das Tau schwankt bedrohlich unter ihren Füßen. Ich falle!Wie ein Betrunkener wankt sie, rudert mit den Armen, um die Balance zu halten.

Jessie spürt die gähnende Leere des Nichts. Ihr Atem geht stoßweise und hallt von unsichtbaren Wänden wider. Und mit einem Mal überkommt sie das Gefühl, nicht länger allein zu sein. Irgendetwas versteckt sich dort unten, beobachtet sie mit gierigen Blicken. Es wartet nur darauf, dass sie einen Fehler begeht und damit ihr Schicksal besiegelt.

Schon glaubt Jessie zu spüren, wie sich eine kalte Hand – oder Klaue oder eine klauenähnliche Hand – um ihren Knöchel legt. Sie würde sich glitschig und aufgedunsen anfühlen, aber dennoch eisern zupacken. Und sie würde den beißenden Gestank des Todes mit sich bringen. Mit einem einzigen Ruck würde das Ding Jessie nach unten ziehen, in die Dunkelheit.

Hört sie nicht schon die Atemzüge dieses Wesens? Gurgelnd wie die eines Ertrinkenden, doch gleichzeitig ekstatisch wie die eines Jägers kurz vor dem Fang seiner Beute?

Jessie wird abwechselnd heiß und kalt. Die Härchen auf Armen, Beinen und Nacken stellen sich auf und der Schweiß läuft ihr über Stirn und Rücken.

Hör auf mit dem Scheiß. Konzentrier dich auf die Lichtpunkte dort drüben. Und werd jetzt ja nicht ohnmächtig!

Jessie holt tief Luft und setzt ihren Weg fort. Sie versucht, nicht mehr auf das protestierende Seil zu achten oder ihrem eigenen Atem zu lauschen; sie bemüht sich, das Wesen in der Dunkelheit zu ignorieren, das ihr wieder ein Stückchen näher gekommen ist. Alles, was zählt, sind die kleinen runden Lichtpunkte da vorne.

Abbröckelndes Geröll in der Dunkelheit.

Wieder kämpft sie um ihre Balance. Hektisch suchen ihre Augen die Umgebung ab. Etwas bewegt sich unter ihr. Es ist nahe. Zu nahe.

So schnell es ihr auf dem schwankenden Seil möglich ist, setzt Jessie einen Fuß vor den anderen. Ihre Brust hebt und senkt sich rasch. Schweiß läuft ihr in die Augen. Sie versucht ihn wegzublinzeln, um die Lichtpunkte nicht zu verlieren, doch es brennt, als wäre ihr Shampoo hineingelaufen, was es ihr unmöglich macht, klar zu sehen.

Sie wankt weiter. Muss weiter. Das Wesen in der Dunkelheit ist ihr auf den Fersen. Sie darf es keinesfalls ansehen. Der bloße Anblick würde sie sofort wahnsinnig werden lassen.

Jessie wimmert leise, während sich unter ihr mehr