4
Frankfurt
Die Morgenluft schmeckte nach Tau, und das, obwohl sie sich mitten in der Innenstadt befand. Julia Durant war viel zu früh wach gewesen und hatte nach endlosem Herumwälzen entschieden, eine Laufrunde zu drehen. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte und auf dem Weg die Treppe hinunter mit den ersten Dehnbewegungen begann.
Im leichten Trab erreichte sie den nahen Holzhausenpark. Bald würde der Berufsverkehr sich verdichten und an den Knotenpunkten der Stadt zum Erliegen kommen. Doch für den Moment genoss sie die Stille, die ersten Vogelstimmen, die erwachten, ihren Herzschlag und den Rhythmus ihrer Füße auf dem befestigten Untergrund.
Kaum hatte sie den ersten Kilometer hinter sich, meldete sich ihr Handy. Die Nummer gehörte zum Kriminaldauerdienst. Na toll, dachte Durant. In zwei Stunden hätte sie ohnehin Dienstbeginn gehabt. Aber das Verbrechen hielt sich nun mal nicht an irgendwelche Pläne.
»Hallo?« Sie keuchte.
»Guten Morgen«, meldete sich die Stimme vomKDD. Sie klang leicht heiser. »Es gibt zu tun. Ein Riesenchaos! Haben Sie schon die Verkehrsmeldungen gehört?«
Durant verneinte. Im Folgenden berichtete die Kollegin ihr von einem verunglückten Transporter auf der Flößerbrücke. Noch während die Kommissarin sich fragte, wo genau die Mordkommission ins Spiel kam, der sie immerhin angehörte, kam die Stimme auf den Punkt: »Ein Techniker vor Ort will festgestellt haben, dass an dem Wagen manipuliert wurde. Ein potenzieller Mordversuch also. Ohne den Segen der Kripo wird da kein Handgriff mehr getan, und was das für die Rushhour bedeutet, können Sie sich ja vorstellen.«
Die Kommissarin blickte an sich hinab. Super, dachte sie. Aber das Polizeipräsidium war nur einen Katzensprung entfernt, und in ihrem Büro befand sich etwas zum Überziehen. »Ich bin unterwegs«, sagte sie daher.
Julia Durants Vater war Pastor gewesen, aber man musste nicht bibelfest sein, um von dem Bild, das sich von der Brücke aus bot, ergriffen zu sein. Die zehn Plagen des alten Ägyptens. Tote Erstgeborene. Flüchtige Gedanken, die sofort wieder von dem Hupkonzert zerrissen wurden. Von überlegen grinsenden Radfahrern und Rollern, die sich ihre Wege durch die Absperrung erkämpften. Deren Gesichtsausdrücke allesamt erstarrten, sobald sie die nackten Babykörper erblickten, die sich an den Uferseiten gefangen hatten. Manchen fehlte ein Arm oder ein Bein, ein Teil trieb mit dem Kopf nach unten, andere schienen einen mit aufgerissenen Augen direkt anzublicken. Der fensterlose Mercedes Sprinter mit dem Logo und Schriftzug einer Firma, von der Durant noch nie gehört hatte, schien mit der Brüstung der Brücke verschmolzen zu sein. Die Flößerbrücke wurde von einem grünen Pylonenpaar getragen, und genau von einem solchen war der Transporter zum Stehen gebracht worden. Es musste ein verzweifeltes Manöver gewesen sein. Die Schiebetür war aufgerissen, eine der Flügeltüren ebenfalls. Die Kommissarin suchte sich ihren Weg in Richtung zweier uniformierter Kollegen und ließ sich auf den neuesten Stand bringen.
»Da wurde vermutlich an der Bremsleitung rumgefummelt«, wusste der ältere der beiden, ein schlanker Mittvierziger mit Pockennarben und hoher Stirn. Er deutete in Richtung des Fahrzeugs. Es lag schräg genug, dass man ein Stück des Unterbodens erkennen konnte, aber nicht genug für eine eindeutige Diagnose. »Die Feuerwehr wollte nämlich wissen, wie viel Öl ausgelaufen ist«, erklärte der Beamte weiter, »also haben wir mal druntergeschaut. Öl und Kühlwasser sind ausgelaufen, aber die Bremsanlage scheint völlig leer gewesen zu sein. Der Fahrer hat es vermutlich zu spät bemerkt. Mit Karacho auf die Brücke, und dann hat er die Kontrolle verloren.« Er hob die Schultern. Mitgefühl ließ er dabei kaum welches erkennen.
»Die Kriminaltechniker sind unten am Ufer und sammeln die Puppen ein«, sagte der Jüngere. Ein kleiner geratenes Exemplar Mann mit strahlend blauen Augen und modelhaften Zügen. Er dürfte kaum Mitte zwanzig sein. »Was für eine Szene, ey. Das müsste man eigentlich filmen.«
Julia Durant blickte sich um. Überall standen Schaulustige und hatten ihre Smartphones im Anschlag. Manche heimlich, andere ganz offen und ohne jedes Schuldbewusstsein. An Handyvideos dürfte es also kaum mangeln. Sie war gespannt, welches Revolverblatt die erste Schlagzeile mit biblischer Phrase veröffentlichen würde. Schon allein der Gedanke daran, jeden Ermittlungsschritt im Fokus der Öffentlichkeit tun zu müssen, bere