Eva
1977
Der Duft von gerösteten Kürbis- und Sonnenblumenkernen, Haselnüssen und Cashews erfüllte die Küche. Dazu vibrierte der Fußboden von der Musik, die aus dem Keller hinaufdrang. Reggae. Eva hatte ebenfalls das Radio auf volle Lautstärke gestellt. AlsShe’s always a woman erklungen war, hatte sie den Regler hochgedreht. Diesen Song mochte sie sehr, besonders die Zeile, in der es hieß, dass diese Frau ihrer Zeit voraus war, sie niemals aufgab, sie nur ihre Meinung änderte.
Galt das auch für einen Abtreibungstermin? Gegen den durchdringenden Rhythmus von Bob Marley, der das gesamte Haus an diesem frühen Freitagvormittag zum Wackeln brachte, kam Billy Joel nicht an und Eva zu keinem klaren Gedanken. Bevor ihr von der Doppelbeschallung die Ohren abflogen, schaltete sie den Radiorekorder lieber aus. Außerdem hatte es geklingelt. »Ecki, kannst du aufmachen?«, brüllte sie und stampfte auf den Boden. Wenn sie so zum Essen rief, klappte das mühelos, und ihr Mitbewohner, der eigentlich Manuel Eckberger hieß und gerade unten im Mediraum an seiner Psychologie-Hausarbeit über Selbsterkenntnis schrieb, hechtete in Sekunden die Treppe hoch. Eva rüttelte und schüttelte die verschiedenen Pfannen, die auf dem alten Wamslerherd standen, damit nichts anbrannte, und lauschte. Nichts – weder Schritte noch Geräusche im Flur. Vermutlich hatte sie sich getäuscht, und von der lauten Musik dröhnten ihr bloß die Ohren. Sie streute verschiedene Gewürze über die Nüsse, scharfe und süße. Eckis geliebtes Chilipulver, nicht zu vergessen. Eine Prise bloß, die trotzdem im Mund explodierte. Jetzt brauchte sie nur noch die Haferflocken kurz mitzurösten. Selbst gemachte aus unbehandelten Körnern. Das Quetschen hatte Milo zum Glück gestern Abend noch übernommen. Einen ganzen Sack voll. Wie sämtliche Zutaten stammte der Hafer aus ökologischem Landbau, der keine chemischen Spritzmittel einsetzte.Naturbelassen schrieb Eva mit auf die Etiketten, und genau das war auch ihr Verkaufserfolg und eine echte Alternative zu den herkömmlichen Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Sie schüttete die Flocken in die Pfannen, rührte weiter um und schmeckte alles ab. Dabei konnte sie nicht widerstehen und naschte ein paar Löffel mehr. Köstlich. Seit sie schwanger war, hatte sie nicht nur ständig Hunger, sie roch auch intensiver denn je. Allein am Duft erkannte sie, wann die Mischung stimmte. Einatmen bedeutete, einen Geruch wahrzunehmen, doch für Eva waren Riechen und Leben schon immer eins gewesen. Beim Einatmen registrierte sie den Duft, beim Ausatmen ordnete sie ihn zu. Mittlerweile kannte sie die Rezepte fürMilos Knusperknäuschen, Majas Lieblingsnektar, Udos Goldmund, Eckis Superkraft und ihre Sorte namensEvas Feigenblatt zwar auswendig, trotzdem wollte sie zur Sicherheit die Rezepte überprüfen. Die Stammkundschaft, die sie jeden Samstag auf dem Obermenzinger Wochenmarkt aufsuchte, würde sich sofort beschweren, wenn sie etwas abänderte. Mit dem Schürhaken zog sie einen Eisenring der Ofenplatte zur Seite und warf ein weiteres Holzscheit in die Glut. Dann schob sie die Pfannen an den Rand der Platte, wo es weniger heiß war, und nahm die Zettel, die gleich neben demWG-Plan hingen, von der Pinnwand. Auch Majas Rezept war darunter. Obwohl sie nicht mehr dabei war, verlangten die Kunden nach wie vor auch ihre Sorte – und überhaupt stieg die Nachfrage. Deshalb boten sie seit neuestem zusätzlich den13ner Traumbeutel an. Dieses Müsli hatten Eva, Milo und Ecki zusammen entwickelt. Benannt nach den dreizehn Zutaten, die es enthielt. Die Anspielung auf Sigmund Freuds Traumdeutung war Eckis Idee. Es enthielt nicht einfach nur von allen anderen Sorten ein bisschen, sondern darüber hinaus noch einen großen Anteil an Kokosflocken und ölhaltigem Bitterkakao, den Eva mit Honig abmilderte