: Monika Maron
: Zwischenspiel
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455012842
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 210
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Am Tag von Olgas Beerdigung verschwimmt die Welt vor Ruths Augen zu einem impressionistischen Gemälde, sie verfährt sich auf dem Weg zum Friedhof und strandet stattdessen in einem abgelegenen Park. Ruth, die einmal für eine kurze Zeit Olgas Schwiegertochter war und die durch eine alte Schuld belastet ist, erscheinen an diesem seltsamen Ort die Toten und die Lebenden. Während die Wirklichkeit zunehmend verschwimmt, erlebt Ruth mit Olga an ihrer Seite einen Tag, an dem Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen.

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentliche zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Erzählung Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

Obwohl ich mich an den Traum nicht erinnern konnte, hinterließ er in mir ein bedrückendes Gefühl, das jeden Gedanken oder auch nur einen ziellosen Blick aus dem Fenster verdunkelte, ohne dass ich einen Zusammenhang herstellen konnte zwischen Traum und Wachsein. Jeder Versuch, mich dem Traumgeschehen zu nähern und ihm wenigstens einen Erinnerungsfetzen zu entreißen, verjagte es erst recht in hoffnungslose Ferne. Nur ein dumpfes Unbehagen blieb, das irgendein unaufklärbares nächtliches Geschehen in mir hinterlassen hatte.

Vielleicht war der Traum ja nur ein Vorgriff auf den Tag gewesen, den ich zwar im Kalender schwarz eingerahmt, dem Gedanken daran aber keine konkrete Gestalt gegönnt hatte. Nur die Blumen hatte ich rechtzeitig bestellt, weiße Rosen mit einer kleinen weißen Schleife: In Liebe, Ruth.

Der Regen der Nacht dampfte über dem Straßenpflaster, und ein gelblich grauer Himmel warf sein Licht wie einen Schleier über Häuser und Bäume.

Wetter.de versprach einen trockenen Tag und Temperaturen um die zwanzig Grad. Ich suchte nach passender Kleidung, entschied mich für einen leichten dunkelgrauen Anzug und flache Schuhe. Zu Beerdigungen ging ich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ oder wenn ich glaubte, den Toten müsse meine Abwesenheit kränken. Auch wenn ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte, stellte ich mir dann vor, der oder die Gestorbene sei auf geheimnisvolle Weise anwesend, suche Kinder, Enkelkinder und Freunde, finde mich nicht unter ihnen und müsse nachträglich an meiner Zuneigung zweifeln. Ich hatte lange überlegt, ob ich zu Olgas Beerdigung gehen solle, und letztlich war es dieser kleine Rest von lächerlicher Unsicherheit, der meine Entscheidung bestimmt hatte.

In der letzten Zeit hatten wir nur noch miteinander telefoniert, Olga und ich. Am Dienstag nach Ostern hatte ich sie endlich besuchen wollen, aber dann rief Olga an und sagte, sie fühle sich nicht wohl und dass wir unser Treffen lieber verschieben sollten. Und nun war Olga tot.

Ich suchte bei Google Maps die Fahrtroute zum Friedhof am östlichen Stadtrand und las noch einmal den Text der Traueranzeige; Gott sei Dank haben sie nicht geschrieben »plötzlich und unerwartet …«, dachte ich. Niemand stirbt unerwartet, wenn er fast neunzig ist. Zwar auch nicht erwartet, immerhin hatten wir uns für den Dienstag nach Ostern verabredet, aber Olga fühlte sich nicht wohl. Und wenn man sich mit neunzig nicht wohlfühlt, kann das schon den Tod bedeuten. Das hätte ich bedenken sollen.

Beim Frühstück las ich die Zeitung von gestern. Ich las immer die Zeitung von gestern, weil ich für gewöhnlich frühstückte, bevor ich duschte und mich ankleidete, und nicht im Bademantel aus der vierten Etage zu den Briefkästen ins Erdgeschoss fahren wollte und wieder hinauf und weil ich die neuesten Nachrichten ohnehin nicht aus der Zeitung erfuhr, sondern aus dem Radio oder dem Fernsehen und weil es darum egal war, ob ich die Zeitung von gestern oder heute las. Früher hatte ich vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses anderthalb Stunden gebraucht, inzwischen waren es zweieinhalb. Wenn ich wie üblich um neun Uhr in meinem Büro im Museum sein wollte, musste ich um sechs Uhr aufstehen. Ol