: Monika Maron
: Munin oder Chaos im Kopf
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455012798
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine kleine Straße - und der Wahnsinn der Welt Mina Wolf schreibt für die historische Festschrift einer Kleinstadt an einem Beitrag über den Dreißigjährigen Krieg. Während der laute Gesang ihrer Nachbarin sie zwingt, in der Nacht zu arbeiten, kommt es in ihrer kleinen Straße zu Unruhen und in Minas Kopf geraten der Dreißigjährige Krieg mit den aktuellen Nachrichten über Terror und Krieg sowie der schwelenden Aggression in der Nachbarschaft durcheinander. Als sich in dieses Chaos noch die Krähe Munin gesellt und Mina mit großen Fragen konfrontiert, gerät ihre Welt gänzlich aus den Fugen.

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentliche zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt die Erzählung Bonnie Propeller (2020) und der Essayband Was ist eigentlich los? (2021).

1.


In den Nächten war es still. Oft saß ich lange in dem kühlen Luftzug, der durch die Balkontür ins Zimmer wehte, und genoss das anonyme Rauschen der Stadt, das akustische Konglomerat aus Motorengeräuschen, trunkenen Stimmen, Musikfetzen, Hundegebell, dem warnenden Schrei einer schlaflosen Krähe; hin und wieder auch das Klappen von Fenstern oder Autotüren, was in unserer schmalen Straße, in der überhaupt nur acht Häuser standen, so laut widerhallte, dass es ein Gefühl von familiärer Intimität erzeugte: einer von uns geht jetzt schlafen oder ist nach Hause gekommen – eine Nähe, die nichts bedeutete und trotzdem schön war, in der Nacht, nur in der Nacht.

Würden wir nicht in dieser engen Straße wohnen, wäre vielleicht gar nicht passiert, was in den letzten Wochen geschehen war und in der nächsten Zeit vielleicht geschehen würde.

Es begann im März. Über Nacht endete das nasskalte, eher noch winterliche Wetter und beglückte die von der Kälte erschöpften Menschen mit einem makellos blauen Himmel und fast sommerlichen Temperaturen. Überall, auch in unserer Straße, wurden Fenster und Balkontüren weit geöffnet, um die Erinnerung an den Winter aus den Wohnungen zu vertreiben. Aber schon am ersten Tag mischten sich in das unverhoffte Glück so schrille wie vertraute Misstöne, die ich und vielleicht auch die anderen Bewohner über den Winter vergessen hatten oder wenigstens gehofft, dass sie uns diesen Sommer nicht verleiden würden wie die vergangenen. Auf dem Balkon des mickrigen Hauses aus den sechziger Jahren, schräg gegenüber meinem Haus und eingeklemmt zwischen zwei stattlichen, stuckverzierten Altbauten, stand sie wieder und sang, sofern man das Jaulen und Kreischen, in dem sich nur selten eine Melodie erkennen ließ, überhaupt Gesang nennen konnte. Sie war eine robuste, man könnte auch sagen derbe Person von schwer schätzbarem Alter, aber auf keinen Fall jung, mit einem ihrer Erscheinung unangemessenen Hang zu divenhaften Auftritten, zu denen, da große Bühnen ihr offenbar verwehrt geblieben waren, ihr nun ein höchstens zwei Quadratmeter großer Balkon dienen musste, den sie mit künstlichen Blumen, Schleierfetzen, einem pinkfarbenen Luftballon und allerlei Firlefanz ausgeschmückt hatte. Sobald ihr irgendein Straßengeräusch die Anwesenheit von Publikum signalisierte, und sei es nur ein einsamer Spaziergänger mit seinem Hund, betrat sie mit durchgedrücktem Kreuz und gerecktem Kinn den Balkon, führte einen Arm schwungvoll von der Brust seitwärts in die Luft und begann, lauthals Töne aneinanderzureihen, deren harmonischer oder auch disharmonischer Zusammenhang ihr Geheimnis war. Einmal habe ich gesehen, wie ein Hund stehen blieb und interessiert zu ihr aufsah, was der Sängerin, die, wie ich erfuhr, Hunde eigentlich hasste, ein glückliches Lächeln abrang. Es rührte mich. Das war zu Beginn des vorletzten Sommers, und damals sah ich in der Sängerin noch eine wundersame und erheiternde Episode. Als ich einige Tage später an ihrem Haus vorbeikam und sie gerade etwas sang, was ich entfernt als eine Melodie aus demWeißen Rössl identifizierte, machte ich es wie der Hund. Ich blieb stehen und sah zu ihr hoch. Ich lächelte sogar, was sie ermutigte, das Einzige, was sie zum Gesang befähigte, ihr überaus leistun