: Maria Teresa Diez Grieser, Roland Müller
: Ulrich Schultz-Venrath
: Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen (4. Aufl.)
: Klett-Cotta
: 9783608122756
: 1
: CHF 36.70
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 312
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie Kinder und Jugendliche Mentalisieren lernen Dieses bewährte Standardwerk erläutert die praktisch-therapeutischen Möglichkeiten der Mentalisierungsförderung bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Es gewährt einen Überblick über verschiedene Felder der mentalisierungsbasierten Arbeit mit jungen Menschen und ihren Bezugssystemen. Dabei berücksichtigt es neueste Forschungsergebnisse, vermittelt spezifische Haltungen, zeigt Interventionsmöglichkeiten in verschiedenen therapeutischen Settings und stellt niedrigschwellige mentalisierungsbasierte Konzepte und Angebote vor. Diese Neuauflage wurde gründlich überarbeitet und um neue Kapitel zum Thema Körper/Embodiment sowie Zusatzmaterialien zu Fokusformulierung, Psychoedukation und zu mentalisierungsfördernden Spielen und Übungen ergänzt.

Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen.

KAPITEL 2

Mentalisieren als zentrale Entwicklungsaufgabe in der Kindheit


Entwicklung ist ein ständiger, vor allem in den ersten Lebensjahren von Reifung, Wachstum und Differenzierung bestimmter Veränderungsprozess. Kindliche Entwicklung ist »ein Geflecht von Entwicklungslinien« (Tyson& Tyson 1997). Die kognitive, die affektive, die psychosexuelle und die soziale Entwicklung beeinflussen sich gegenseitig.

Jenseits dieser verschiedenen Entwicklungsstränge ist die Beziehung zu anderen Menschen das zentrale übergeordnete Thema der kindlichen Entwicklung. Dabei zeigt sich zunehmend, »dass die gesunde Entwicklung eines Kindes nicht nur einer stabilen Primärbeziehung, sondern mindestens ebenso bedeutsam einer Gruppe bedarf« (Schultz-Venrath& Felsberger 2016, S. 16). Die Forschungsergebnisse der letzten Jahre betonen, dass für die psychische Gesundheit die Erfahrung, Teil eines umfassenderen sozialen Kontextes bzw. diesem zugehörig zu sein, zentral ist (Fonagy et al. 2023b). Fonagy und Mitarbeiter (Fonagy et al. 2004) setzen Selbstentwicklung mit dem Sammeln von Erfahrungen in Beziehungen gleich. Erfahrungen müssen als Elemente des Selbst und der Identität innerpsychisch repräsentiert werden, um durch Mentalisieren Selbst- und Beziehungsregulation zu ermöglichen. Die Qualität der Beziehungen zwischen den Bezugspersonen und dem heranwachsenden Kind hat dabei entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Selbst sowie auf die Selbst- und Beziehungsregulation. Somit sind die Bindungserfahrungen mit adäquat mentalisierenden Bindungspersonen (siehe Kap. 3) die Basis für die Entwicklung des Mentalisierens und für gelingende Selbst- und Beziehungsregulation. Kinder, deren Bezugspersonen keine oder nicht genügend Sicherheit für die persönliche und soziale Orientierung vermitteln können oder sogar selbst eine Quelle von starkem Stress darstellen, haben eine »doppelte Belastung« zu bewältigen (Allen& Fonagy 2015). Die Bindungsperson wird zu einem Rätsel, welches durch Nicht-Mentalisieren »gelöst« bzw. ausgehalten werden muss.

Wieso ist es, wie oben gesagt, wichtig, dass das Kind sich in einem sozialen System mentalisiert fühlt und ein Gefühl der sinnvollen Verbindung mit einer umfassenderen sozialen Gemeinschaft erfahren kann (Fonagy& Nolte 2023)? Die daraus entstehende Zugehörigkeit kann Gefühlen der Einsamkeit und Entfremdung und der Entstehung einer möglichen Psychopathologie entgegenwirken (Fonagy& Nolte 2023). Zudem geht man davon aus, dass sich in der frühen Kindheit in passenden Beziehungen epistemisches Vertrauen entwickeln kann. Das epistemische Vertrauen ist in der neueren Entwicklung des Mentalisierungskonzepts zu einem zentralen Element geworden (Fonagy& Nolte 2023).Fonagy und Luyten (2016) verstehen epistemisches Vertrauen in seiner Anwendung auf pädagogische und psychotherapeutische Kontexte als die grundsätzliche Bereitschaft eines Menschen, die Kommunikation eines anderen Menschen als vertrauenswürdig, verallgemeinerbar und als für die eigene Person relevant zu betrachten.

Fonagy& Allison (2014) sehen das epistemische Vertrauen als den Mechanismus, durch den das Kind dazu befähigt wird, über Lernen soziale Kompetenzen zu erwerben. Dabei bezieht sich das epistemische Vertrauen »auf das Vertrauen in die Authentizität und Relevanz von Informationen, die von anderen mitgeteilt werden« (Nolte& Fonagy 2023, S. 23). Dies wird durch eine sichere emotionale Bindung möglich, welche den Boden für die Entspannung der epistemischen Vigilanz bereitet und damit eine sensitive, angemessene Offenheit für Hinweissignale (ostensive cues) der Bezugsperson schafft.

Sämtliche für das Mentalisieren notwendigen Entwicklungsschritte spiel