Kapitel 1
Soziologische und historische Blicke auf die Krise
1.1 Die Zerbrechlichkeit des Sozialen
Überlegungen des Soziologen AndreasReckwitz (2020) können für eine Psychotherapieergänzend wichtig sein: Er spricht von der »Zerbrechlichkeit des Sozialen« (o. S.), die uns nun gerade durch das Virus bewusst werde.Die Zerbrechlichkeit des Sozialen zeigt sich jetzt mit einer Wucht – denn es gab sie schon länger (vgl. dazu Tony Judts wunderbares Buch »Dem Land geht es schlecht«, 2014) –, die extrem beunruhigend wirken und die persönliche Zerbrechlichkeit verschärfen kann.10
Reckwitz (2020), Jahrgang 1970, meint auf die Frage desSRF: »Was haben Sie als Soziologe aus der Corona-Krise bislang gelernt?«, dass es ihn persönlich betroffen gemacht habe, wie zerbrechlich die Gesellschaft sein kann, denn seine Generation habe die Gesellschaft als etwas Stabiles erlebt. Eine Aussage, die mich eher verwundert, denn als ab Mitte der 90er-Jahre der Neoliberalismus bei uns Einzug hielt, habe ich, Jahrgang 1943, die Gesellschaft keinesfalls als stabil erleben können. Es erscheint mir wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass jede Generation eine eigene Sicht auf Erfahrungen – und damit auf die Zukunft – entwickelt (vgl. ebd., o. S.).11
Reckwitz betont, dass alles das, was wir dem autonomen Subjekt gerne zuschreiben, etwas sei, was man eigentlich erst könne, wenn man einen Subjektivierungsprozess in der Gesellschaft durchgemacht habe. Nun aber gebe es große Fragezeichen in diesem »Subjektivierungsprozess«. So hätten ja viele gelernt, anzunehmen, dass »alles« immer größer, besser, vollkommener werden könne, vorausgesetzt, man strenge sich nur genug an (vgl. kritisch hierzuCabanas & Illouz, 2019;Sennett, 1998).
Dazu wiederum am 2. 10. 2020 Tim Leberecht (vgl.Steingart, 2020), Unternehmer, Bestsellerautor (»Business-Romantiker«) und Vordenker für einen neuen Humanismus in der Wirtschaft in einem Interview: Wir können verlieren, ohne Verlierer zu sein. Wer eine menschlichere Wirtschaft wolle, der komme um das Verlieren nicht herum: »Unsere Erfolgsgeschichten sind immer auch die Verlustgeschichten der anderen. Wir ahnen durch Corona, dass die Ära des Gewinnens vorbei ist, dass wir in Zukunft immer mehr und immer wieder verlieren werden.« (ebd., o. S.)
<