: Arno Gruen
: Dem Leben entfremdet Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden
: Klett-Cotta
: 9783608104936
: 2
: CHF 8.10
:
: Gesellschaft
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Unser Bewusstsein und unsere Wirklichkeit sind beherrscht von ­Krisen, Hass, Exzessen und Gewalt bis hin zur Verachtung des Menschlichen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Technik und Informatik beeinflussen, ­beaufsichtigen, befehlen uns: Das abstrakte Bewusstsein entfremdet uns unaufhaltsam dem Leben. Das Empfinden für die Wirklichkeit und das Mitgefühl für andere Menschen werden zunehmend durch ein unnatürliches und nicht mehr menschliches Bewusstsein abgewertet und unterdrückt. So nehmen wir den Ursprung unseres selbstzerstörerischen Tuns nicht mehr wahr. Das ­empathische Bewusstsein würde es uns ermöglichen, den Weg des Lebens neu zu entdecken.

Arno Gruen, 1923 in Berlin geboren, emigrierte 1936 in die USA. Nach dem Studium der Psychologie leitete er ab 1954 die psychologische Abteilung der ersten therapeutischen Kinderklinik in Harlem. 1961 promovierte Arno Gruen als Psychoanalytiker bei Theodor Reik. Es folgten Professuren in Neurologie und Psychologie. Daneben führte er seit 1958 eine psychoanalytische Privatpraxis in Zürich, wo er seitdem lebte und praktizierte. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigt sich Arno Gruen mit den psychologischen Ursachen für Autoritätsgläubigkeit, Fremdenhass, Gewalt und Diktatur sowie den emotionalen Voraussetzungen für Demokratie. Für das bei Klett-Cotta erschienene Buch 'Der Fremde in uns' erhielt Arno Gruen im Jahr 2001 den Geschwister-Scholl-Preis. Am 20. Oktober 2015 verstarb Arno Gruen im Alter von 92 Jahren.

DIE SPALTUNG DES BEWUSSTSEINS:
ABSTRAKT-KOGNITIV VERSUS EMPATHISCH


Die Architektur des Bewusstseins ist nicht nur vernachlässigt worden, sie hat sich vor allem dazu entwickelt, von dem Grundgedanken des Feindlichen beherrscht zu sein. Alle anderen Bewusstseinszustände werden deshalb als naiv eingestuft und sind für das Nachdenken, das darüber hinaus greift, wertlos. Feinddenken jedoch basiert auf den frühesten Verhaltensmustern, die ausgelöst werden, wenn ein Säugling von Reizüberflutungen überwältigt wird. Er muss sich dann von seiner Umwelt zurückziehen, kann seine existenzielle Menschlichkeit nicht aufbauen, ja, dies läuft darauf hinaus, dass er seine Menschlichkeit, lange bevor er sie hat, bereits wieder verliert.

Die großen Dichter haben dies schon immer gewusst. So sagte beispielsweise der amerikanische Dichter Gary Snyder:

»Es gibt einen Geisteszustand, der von dem rein ekstatischen unterschieden werden muss, in welchem die unmittelbarsten und persönlichsten Wahrnehmungen mit den archetypischen und rituellen Beziehungen der menschlichen Gesellschaft zum Weltall verschmelzen. Dichtung, die daraus gemacht ist, ist nicht ›automatisch‹, sie ist jedoch häufig mühelos, und sie schließt das Vergnügen eines gelegentlichen geistigen Einfallsreichtums und der Anspielungen nicht aus. Meine besten Gedichte fließen aus einem solchen Zustand …«157

Die Architektur des Bewusstseins, die aus einem solchen Zustand entsteht, basiert auf Annäherung und nicht auf Rückzug. Sie gründet auf Zuwendung zu anderen Menschen, auf einem unmittelbaren und weit verzweigten Gefühl für die Person und ihre Menschlichkeit, und eben nicht auf Rückzug und Feinddenken.

Viele Anthropologen haben das Denken und Fühlen von Völkern beschrieben, die von unserer Zivilisation unberührt bleiben konnten. Sie berücksichtigten jedoch die grundsätzlichen Unterschiede im Bewusstsein nicht, die durchaus vorkommen und die zum wachsenden oder verendenden Aufbau der Empathie führen. Diamond und Sorensen kommen dieser Erkenntnis als eine der wenigen nahe. Sorensen beobachtete auch den Zusammenprall der beiden Bewusstseinsformen – empathiefähig, nicht empathiefähig – und ihre Unvereinbarkeit.158

Auf der Basis seiner jahrelangen Studien beschreibt er das Bewusstsein der sogenannten Primitiven, also von Völkern, die von unserer Zivilisation unberührt sind. Annäherung, Hinwendung und ein integriertes Vertrauen sind die wichtigsten Säulen, worauf das Bewusstsein dieser Menschen aufbaut. Dies beginnt schon bei der Kinder- und Säuglingspflege, in der ein Kleinkind in andauerndem Körperkontakt mit der Mutter oder ihren Freunden bleibt. Die Babys reagieren auf diese empathisch-taktile Stimulation mit eigenen taktilen Antworten. Sie müssen nicht schreien oder wimmern, um mit ihrer Umwelt zu interagieren. Vielmehr entsteht auf diese Weise eine hochentwickelte präverbale Kommunikation, eine Art der Bewusstheit, wie wir sie gar nicht kennen.

Unter diesen Umständen tritt auch keine Geschwisterrivalität auf: »Wenn Nahrung, Komfort und Stimulation dauernd vorhanden sind, müssen die Kleinkinder nicht hilflos warten, bis ihre Bedürfnisse erfüllt werden,« so Sorenson dazu. Kein emotionales Bedürfnis, das sich für seine Befriedigung auf abstrakte Erwartungen der Eltern fokussieren muss, entwickelt sich. Das Bewusstsein, das sich hier entwickelt, unterscheidet sich von unserem verengten Zivilisationsbewusstsein ganz grundsätzlich. Abstrakte Erwartungen, die bei uns dafür sorgen, dass d