: Hinrich von Haaren
: Wildnis Roman
: Wallstein Verlag
: 9783835389328
: 1
: CHF 17.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 290
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dürfen die Überlebenden nach einer Katastrophe einfach schweigen? Und ist dieses Schweigen ihre und unsere einzige Chance auf ein zukünftiges Glück? Gottfried Schult lehrt Geschichte in Cambridge. An seinem 60. Geburtstag lernt er den um 30 Jahre jüngeren Ely kennen. Die Beziehung setzt nach und nach ein lang verborgenes Trauma in Schult frei. Erinnerungen an den Hamburger Feuersturm von 1943 kehren zurück und an seine Schwester Toni, die während des Bombardements umgekommen ist. Je mehr Schult die verschlossene Vergangenheit öffnet, desto größer wird der damit verbundene Schrecken. Ist Toni durch seine Schuld umgekommen? Kann ein sechsjähriger Junge für ein solches Ereignis verantwortlich gemacht werden? Doch Gottfried Schult will keine schweigende Existenz mehr führen. Nur in der Sprache und in der Aussprache kann er eine Chance zum Glück und Weiterleben finden. Souverän zwischen Campus-, Liebes und historischem Roman wechselnd, erzählt »Wildnis« vom Ringen mit dem Verdrängten und dem Versuch eines Menschen, sich eine neue Vergangenheit zu schaffen.

Hinrich von Haaren, geboren 1964, stammt aus Niedersachsen und lebt seit 1995 in London. Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin. Mehrere Stipendien und Preise. Zuletzt erschienen die Romane »Blaues Reich. Winterstadt« und »Brandhagen«.

 

 

 

Flamme


1


Der George and Dragon war eine vergammelte Kneipe unweit des Londoner Bahnhofs Liverpool Street. Hier lernte Schult an seinem sechzigsten Geburtstag Ely kennen. Zuerst dachte er, der Junge sei einer der vielen im George verkehrenden Stricher, die unter dem meist älteren Publikum nach Kunden suchten. Gracy Bennett, Pub-Landlady und Gelegenheitspianistin, duldete die Prostituierten,because they’re part of the fabric, darling, aber auch, weil die Jungs ihr ein reges Thekengeschäft bescherten, da sie die Gäste bezirzten und zum Dableiben anhielten. Auch Schult kannte eine ganze Reihe der Stricher, ja kannte sie schon in der zweiten und dritten Generation, da ihre professionelle Laufzeit doch relativ beschränkt war, kannte sie alsGeoffrey from Cambridge. Geoffrey, Geoff, war heiter und großzügig, und viele der Jungs begleiteten ihn, nachdem Gracy kurz vor elf die Glocke zur Sperrstunde geläutet hatte, zurück in seine kleine, in der gänzlich heruntergekommenen, aber von Schult geliebten Gegend am Arnold Circus gelegenen und mehr oder weniger nur aus einem Zimmer mit angelegenem Bad bestehenden Wohnung. Schult hatte diese Unterkunft Mitte der Achtziger von einem Zyprioten gemietet, als Fluchtpunkt aus dem ihm mehr und mehr wie ein Gefängnis erscheinenden Cambridge. Manchmal, wenn er nun nachts in Begleitung nach Hause kam, begegneten ihm auf der Treppe seine Nachbarn aus Bangladesch und grüßten, verwirrt über dieses Ein- und Ausgehen, flüchtig. Nur Mrs. Thakurani vom dritten Stock nickte wohl wissend.

Über die Jahre stiegen die Preise für die sexuellen Tête-à-Têtes von zehn auf mehr als hundert Pfund, aber Schult, der in der gleichen Zeitspanne mehrere Male am Downing College bei der Beförderung zugunsten jüngerer und neuerer Kollegen übergangen worden war, bezahlte trotz seines stagnierenden Gehalts gern die höheren Tarife. Er hätte auch andere Männer, ohne zu zahlen, mit nach Hause nehmen können, doch bevorzugte Schult die transaktionale Liebe, bei der klare Verhältnisse und Grenzen herrschten, zumal bei diesen Begegnungen die Stunden von vornherein genau vereinbart und abgezählt wurden, wodurch immer auch das Ende der gemeinsam zu verbringenden Zeit in Sicht blieb. Diese Unmissverständlichkeit kam Schult entgegen, der nach dem vollzogenen Akt, wenn jedes Verlangen abgefallen war von ihm, keine weitere Minute verbringen wollte mit den Jungen, die ihrerseits ebenso eilig Jeans und T-Shirts vom Boden aufsammelten, das bereitgelegte Geld einstrichen und sowohl die Wohnung als auch Schults Leben auf immer verließen. Niemand stellte Ansprüche, niemand quälte ihn mit Forderungen nach Zuneigung, niemand verlangte Liebeserklärungen. Auch tat keiner beim nächsten Treffen im George, als kenne man sich, es sei denn, Schult gab ein diesbezüglich eindeutiges Zeichen. Und vor allem: Niemand kam nach Cambridge. Diese Trennung von Liebe und Leben war für Schult von allergrößter Bedeutung. Nicht einmal Liz und Tom erzählte er, was er wirklich in London trieb, und wie in einer stillen Abmachung taten alle so, als fahre Schult aus Studienzwecken in die Hauptstadt.

Von Natur aus fiel es Schult nicht schwer, gewisse Themen völlig aus seiner Unterhaltung auszuklammern, vielmehr war er ein derartiges selektive