: Martin Lechner
: Die Verwilderung
: Residenz Verlag
: 9783701747566
: 1
: CHF 18.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 392
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Die Verwilderung' ist zugleich anrührend und absurd, total abgefahren und sehr vertraut: Martin Lechner gelingt eine atemberaubend wilde Mischung. Marlies ist nicht zu beneiden: Den Sommer vor dem Abitur soll sie bei ihrer verwirrten Oma verbringen, um ihr das Haus als Erbe abzuschwatzen. Seit einer Weile macht sich auch an ihrer linken Hand eine un­heimliche Schwellung bemerkbar, die nicht vergehen will. Was wie eine Coming-­of-­Age-­Geschichte beginnt, hebt ab zu einem tragikomischen Roman u?ber Angst und Scham und Selbstbehauptung. Denn als Marlies sieht, dass ihr eine Klaue aus dem Finger wächst, die bald ein unheimliches Eigenleben entwickelt, beginnt eine rasende Suche nach Rettung - und die Ereignisse u?berschlagen sich. Martin Lechner versteht es, eine rätselhafte Geschichte so mitreißend zu erzählen, dass wir mit dem gefährlichen Mädchen bangen, das sich vielleicht in ein Raubtier verwandelt ...

geboren 1974, Studium der Philo­sophie und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Martin Lechner lebt in Berlin. Sein Debu?troman 'Kleine Kassa' stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2014, sein Erzähl­band 'Nach fu?nfhundertzwanzig Weltmeertagen' auf der Shortlist fu?r den Clemens­-Brentano-­Preis 2017. 'Der Irrweg' (2021) wurde vom Berliner Senat gefördert. 'Die Verwilderung' (2025) ist sein dritter Roman.

3


Obwohl sie natürlich recht hatte, dachte ich, während der Fahrstuhl sich leise schabend in die Höhe bewegte. Seit Mama Wolfram aufgegabelt hatte, beziehungsweise er sie, im Fumée, einer Kneipe gleich hinter dem Stadttheater, die er nach seinem Rauswurf offenbar als eine Art Notbühne benutzt hatte, wurde es fast jeden Abend laut. Anfangs, im Dezember, hatte ich es noch ertragen können. Da war bloß ein Flüstern aus dem Schlafzimmer gedrungen, ein Hauchen, manchmal ein kleines Gekicher. Auch war er nur ein- oder zweimal pro Woche zu Besuch gewesen. Bald aber, schon im Februar, nach seinem Einzug, waren andere Geräusche zu hören, und nicht erst nachts, sondern auch am Abend, am Wochenende manchmal schon morgens, ein Geschnaufe und Gehechel, das sich bis in die Küche verbreitete, bis in mein Zimmer und mein Bett, wo ich mir die Hände auf die Ohren drückte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch einen einzigen Laut hören müsste, irgendein Keuchen oder Quietschen, dann würde ich explodieren, wenn ich nichts sagte. Denn bisher hatte ich, statt etwas zu sagen, nur selbst Geräusche gemacht, Lerngeräusche, Lebensgeräusche, hatte gehustet und geredet, am Telefon, auch wenn niemand dran war, hatte