: Martin Pollack
: Gerhard Zeillinger
: Zeiten der Scham Reportagen und Essays
: Residenz Verlag
: 9783701747535
: 1
: CHF 18.00
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Pollacks Buch 'Zeiten der Scham' versammelt Essays und Reportagen eines leidenschaftlichen Kämpfers für Demokratie und offene Gesellschaft. Der Band bietet eine sorgfältige Auswahl von Texten aus den letzten Jahren - packende Reportagen aus osteuropäischen Ländern wie der Ukraine, Belarus oder der Republik Moldau, aber auch Aufrufe zum Widerstand und bewegende Reden gegen das Vergessen des Holocaust. Immer wieder setzt sich Martin Pollack auch mit der schwierigen Geschichte seiner eigenen Familie auseinander. Und in seinen letzten, bereits von Krankheit gezeichneten Jahren hat er sehr persönliche Beobachtungen aus seinem geliebten burgenländischen Garten, Geschichten von Apfelbäumen, Jahreszeiten und allerlei Getier verfasst, die hier erstmals publiziert werden.

Martin Pollack geboren 1944 in Bad Hall, gestorben am 17. Januar 2025 in Wien. Studium der Slawistik und osteuropäischen Geschichte. Übersetzer polnischer Literatur, Journalist und Autor, 1987- 1998 Korrespondent des SPIEGEL in Wien und Warschau. Zahlreiche Preise, u. a. den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln (2007) und den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2011). Lebt im Südburgenland und in Wien. Zuletzt erschienen: 'Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater' (2004), 'Wer hat die Stanislaws erschossen? Reportagen' (2008), 'Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien' (2010), 'Kontaminierte Landschaften' (2014), 'Topografie der Erinnerung' (2016).

Ukraine. Die Instrumentalisierung der Geschichte


(2023)

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat Europa in seinen Grundfesten erschüttert. Alte Ängste und Vorurteile kommen hoch, die wir längst für überwunden hielten. Wir müssen nun erkennen, dass wir sie bloß verdrängt haben, weil uns das bequemer erschien, als uns gründlich mit ihnen und ihren Ursprüngen auseinanderzusetzen. Ein Blick zurück mag schmerzlich sein, doch er kann helfen, manches zu verstehen, womit wir jetzt konfrontiert sind.

Mir kommt dabei eine frühe Reise in den Sinn, die ich 1960 nach Prag unternahm. Ich fuhr mit der Bahn von Linz nach České Budějovice/Budweis, wo ich in den Zug nach Prag umstieg. In diesem Zug kontrollierte eine junge Frau in Uniform, mollig, blond und hübsch, die Fahrkarten. In Österreich waren Frauen als Zugschaffnerinnen zu jener Zeit noch undenkbar.

Der Zug war leer und die junge Frau setzte sich zu mir. Sie sprach nur gebrochen Deutsch und ich kein Tschechisch, trotzdem unterhielten wir uns hervorragend. Wir lachten und schäkerten, und als sie den Zug verließ, gab ich ihr ein paar Bananen und eine Schachtel Zigaretten, die ich, obwohl selber Nichtraucher, für solche Gelegenheiten mitgenommen hatte. Sie bedankte sich mit einem Kuss auf die Wange.

Ich kam mir großartig vor. Ein Bote aus einer schöneren, besseren Welt, der hier, in einem Land, wo alles aus dem Westen bewundert wurde, Gaben verteilte und dafür Dankbarkeit erntete. Erst Jahre später dämmerte mir, dass ich mich benommen hatte wie ein Idiot, wie ein großspuriger Angeber, der sich als Wohltäter aufspielte.

Diese paternalistische Attitüde in Bezug auf die Menschen in Osteuropa, das wir so pauschal wie diffamierend Ostblock nannten, hat sich im Westen jahrzehntelang erhalten, manchmal bis heute, obwohl der sogenannte Ostblock längst verschwunden ist. Begleitet wurde diese überhebliche Sicht von der Überzeugung, die Menschen drüben, hinter dem Eisernen Vorhang, hätten ihre Misere selber verschuldet, denn sie seien nicht bereit, ihre beklagenswerte Situation aus eigenem Antrieb zu ändern. Dass sie zu Opfern der Geschichte geworden waren, auf die sie keinen Einfluss hatten, nahmen wir nur ungern zur Kenntnis.

Auf diese Weise entwickelten wir gegenüber unseren östlichen Nachbarn ein Überlegenheitsgefühl, gepaart mit Verachtung, das die gegenseitigen Beziehungen auf Jahre hinaus vergiftete.

Dass unsere Beziehungen zu den Ländern im Osten historisch schwer belastet sind, wird bis heute gern ausgeblendet. Dabei ist unbestritten, dass Deutsche und Österreicher in diesen Gebieten im 20. Jahrhundert grausam gewütet haben. In keinem anderen Teil Europas wurden ganze Bevölkerungsgruppen so systematisch und brutal entwurzelt und hin und her getrieben, von Osten nach Westen und umgekehrt. Vertreibungen, Deportationen und sogenannte Säuberungen, denen Zehntausende zum Opfer fielen, waren an der Tagesordnung.

Die Tatsache, dass unsere Väter und Großväter zu den Tätern gehörten, verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen, voran den Holocaust, wurde lange verschwiegen oder geleugnet. Nach 1945 setzte eine kollektive Amnesie ein, und unser Land wurde zu einem unrühmlichen Beispiel für einen schlampigen Umgang mit der Vergangenheit, geprägt von Selbstzufriedenheit und Verdrängung. Keiner wollte von den Schandtaten gewusst haben, nicht einmal die Täter selber. Wir haben uns rasch daran gewöhnt, kurz nach einer alle Dimensionen sprengenden Katastrophe wieder in einer angeblich heilen und sicheren