ZEIT
Was trinken wir, wenn wir einen Schluck Wein zu uns nehmen? Zeit. Was schmecken wir? Geschichte. Hunderte Millionen Jahre Erdgeschichte, konzentriert im gegenwärtigen Moment. Mit jedem Schluck ziehen wir Vergangenes ins Augenblickliche. Pablo Neruda dichtete einst: „Nie hattest du Raum genug in einem Glase.“ Zeit ist hingegen reichlich vorhanden in jedem Glas. Wie keine andere menschliche Schöpfung übersetzt Wein die Unverständlichkeit von Zeit in die Sprache unseres Geschmacks.
Welche Zeit? Die versteinerte oder die zyklische? Der Kreislauf der Jahreszeiten, die saisonale Veränderung von Winterschlaf zu Erntedank? Oder die freien Rhythmen im Keller, das Zusammenspiel von Aktion und Geduld, von Eingreifen und Ruhenlassen? Oder die Dauer des Reifens, die Jahre der Lagerung und Erwartung, bis zu jenem Tag, an dem das Verkosten eines älteren Weins sich als Rückblick auf ein bestimmtes Jahr und als Sicht auf die Jahre seitdem erweist, auf den Pfad des Lebens zwischen dem Abfüllen anno dazumal und dem Dekantieren heute?
Von der Biografie zur Geologie. Vom Konkreten zur Abstraktion. Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, dass sich vor 400–450 Millionen Jahren im Devon zunächst Ton, Lehm, Sand, Plankton, Asche aus Meeresvulkanen und abgestorbene Korallen am Boden eines Urmeeres ablagerten und vor etwa 325 Millionen Jahren bei der Kollision der Urkontinente Gondwana und Laurussia, als die Sedimente gestaucht, gefaltet und unter Druck und Hitze umgewandelt wurden, eine Schieferstruktur entstand. Der Schiefer verwitterte und wurde zu jenem steinigen Erdboden, der den Riesling inmitten Deutschlands einzigartig macht. Böden sind Zeugen vergangener Epoche