Wer nichts wird, wird Hirt
von Ursula Schröder
Eine Woche vor Weihnachten wurde ich aus der Haft entlassen, und weil meine Mutter nachdrücklich versichert hatte, sie wolle nie mehr etwas mit mir zu tun haben, wusste ich erst mal nicht wohin. Aber dann meldete sich Onkel Heinz und sagte, ich könne vorläufig bei ihm wohnen. Er holte mich mit seinem alten Lada sogar am Bahnhof ab und bot mir an, ich könne mir in der Kleiderkammer seiner Kirche ein paar Klamotten aussuchen. »Du brauchst auf jeden Fall eine warme Jacke«, meinte er, und da hatte er wohl recht.
Aber schon als ich mich in der etwas muffig riechenden Bude umsah, in der die Gemeinde ihr kleines Sozialkaufhaus eingerichtet hatte, bekam ich einen ersten Vorgeschmack davon, wie mein Leben von nun an aussehen würde, denn ich konnte die beiden Mitarbeiterinnen im Nebenraum wispern hören. Natürlich redeten sie über mich. »Drogenprobleme«, konnte ich verstehen, »Tankstelle überfallen« und »Beschaffungskriminalität«. Alles ebenso zutreffend wie unerfreulich.
Das fing ja gut an. Am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen, aber das hätte ja auch nichts geholfen. Alle wussten bereits, dass Heinz Makowskis nichtsnutziger Neffe angekommen war, vor dem man seine Geldbörsen, seine Wertgegenstände und vermutlich am besten auch seine heranwachsenden Töchter in Sicherheit brachte.
Onkel Heinz tat, als ob er nichts bemerkte. Aber nachdem er mir großzügig eine Jacke, eine Jeans und ein quasi neuwertiges, wenn auch nicht gerade modisches Paar Winterstiefel bezahlt und mich wieder in sein Auto verfrachtet hatte, sagte er zu mir: »Marvin, das wird jetzt keine einfache Zeit für dich.«
»So sieht’s aus«, brummte ich.
»Kann ich davon ausgehen, dass du keine Drogen mehr nimmst?«
»Ich hab eine Therapie hinter mir, Onkel Heinz. Ich bin clean.« Wobei ich ahnte, dass ich wahrscheinlich immer anfällig bleiben würde, ähnlich wie ein Alkoholiker. Aber auf seinem Hof waren hoffentlich keine Gelegenheiten, um in Versuchung zu geraten.
»Und auch keine krummen Dinger mehr? Versprochen?«
»Versprochen.« Er konnte nicht wissen, wie oft ich mir das schon selbst gelobt hatte. Nie wieder wollte ich einen Knast von innen sehen.
»Gut«, sagte Onkel Heinz. »Dann schlage ich vor, du machst dich erst mal bei mir auf dem Hof nützlich. Im neuen Jahr können wir dann weitersehen.«
Er parkte den Lada im Unterstand und ging mit mir ins Haus, in dem er seit Tante Lenas Tod allein lebte. Ich brachte die Tasche mit meinen Habseligkeiten in das Zimmer meines Cousins Michael, der inzwischen in einem Versicherungskonzern Karriere machte. Seine Tennispokale standen immer noch im Regal und führten mir vor, dass er nie so ein erbärmlicher Versager gewesen war wie ich.
Wie früher war die Wohnküche des Hofes der zentrale Raum des Hauses. Hier wurde ein Kachelofen beheizt, und eine meiner Aufgaben würde es zukünftig sein, dafür Holz zu hacken und den Ofen regelmäßig zu befeuern. »Außerdem kannst du dich um die Schafe und den Stall kümmern«, entschied Onkel Heinz. »Das Melken mache ich vorläufig lieber selbst.«
»Du hast noch Kühe?«, fragte ich erstaunt.
»Ziegen«, korrigierte er. »Wenn du willst, bringe ich dir bei, wie man Käse macht. Aber am besten nicht alles auf einmal.«
Das fand ich auch. Bisher war ich immer nur im Sommer hier gewesen, und ich war überrascht, wie viel es im Winter auf einem Hof zu tun gab. Vielleicht nutzte mein Onkel auch die Gelegenheit, endlich einen Handlanger zu haben, um einiges an liegen gebliebenen Arbeiten zu erledigen; auf jeden Fall fiel ich jeden Abend todmüde ins Bett. Vermutlich musste ich bei ihm härter und länger schuften als jemals im Knast, und auch die Verpflegung war nicht unbedingt besser – Kochen war nicht gerade die Stärke von On