1. KAPITEL
Immerhin war die Torte großartig.
Myrtle saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden des Ballsaals und überlegte, welchem Teil der Torte sie sich als Nächstes widmen sollte. Ihr Abendkleid bauschte sich dabei um sie herum wie eine Wolke. Sie hatte normalerweise nichts dafür übrig, wenn Torten mit überflüssigen Kleinigkeiten versehen waren, aber sie musste zugeben, dass die kandierten Orangenstückchen, mit denen die Decke von dieser verziert war, köstlich schmeckten.
„Warum?“, fragte ihr Bruder. Seine Stimme klang mitgenommen. Wie meistens, wenn er mit ihr sprach.
Es war ja nicht so, dass sie unangenehm seinwollte; im Allgemeinen wollte sie nur umherstolzieren, schöne Kleider tragen, köstliches Essen probieren und ihrem Bedürfnis (manche, zu denen ihr Bruder gehörte, hättenWahn gesagt) nachgehen, ihren Kopf auch für andere Dinge zu benutzen als für belanglose Gespräche und um sich zu merken, welches Besteck man für welchen Gang benutzte.
Sie alle erfüllten mehr oder weniger denselben Zweck. Sie verstand nicht, warum man deswegen so einen Aufstand machen musste. Aber offensichtlich fand die vornehme Gesellschaft – die Welt, in der sie sich unglücklicherweise bewegte, weil sie die Tochter eines Viscounts war – es erschütternd, beunruhigend und infam, wenn man seine Fischgabel dazu benutzte, eine Erbse auf Abwegen einzufangen.
Doch das war nicht einmal der Grund dafür, warum ihr Bruder, Lord Richard Allen, der Viscount Leybourne, so aufgebracht war. So gereizt.
Die Geschwister waren allein im Ballsaal, der Rest der Familie und ihre Hausgäste hatten sich längst zum Schlafengehen zurückgezogen. Das Fest war ein rauschender Erfolg gewesen, zumindest bis Myrtle gesagt hatte, was sie wirklich dachte. Offensichtlich hatte ihr Bruder gegen diese Wahrheit etwas einzuwenden.
Der Ballsaal gehörte zum Landsitz der Familie Leybourne, einem opulenten, weitläufigen Schloss mit weit über einhundert Zimmern, das auf mehr als siebenhundert Morgen Land stand.
Der Besitz der Leybournes – nicht Myrtles eigene Reize, wie sie sehr gut wusste – war auch der Grund dafür, dass sie so viele Heiratsangebote bekommen hatte.
Und bislang hatte sie kein einziges davon angenommen.
„Ich habe doch nur die Wahrheit gesagt“, s