: Elisabeth Reichart
: Komm über den See
: Otto Müller Verlag
: 9783701363292
: 1
: CHF 19.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ruth Berger war zwar als Dolmetscherin in fremden Sprachen zu Hause, doch eine eigene Sprache findet sie nicht. Schon als Kind wurde sie zum Schweigen verdammt, und als erwachsene Frau verstummt sie immer wieder vor der Macht der Männer um sie herum. Nach gescheiterten Beziehungen und einer abgebrochenen Karriere ist sie allein mit ihrer Angst vor Nähe und Freundschaft, allein mit dem Verdacht, dass mit dem Verschwinden der weiblichen Stimmen die Ohnmacht der Frauen zementiert werden soll. Ruth, nunmehr Lehrerin, übersiedelt für ein Jahr von Wien nach Gmunden. Dort ist sie ganz nah am Thema ihrer Recherchen, die sie seit Jahren nebenbei führt: Sie sammelt Akten über NS-Widerstandskämpferinnen im Salzkammergut, zu denen auch Anna Zach gehörte. Nach einem Gespräch mit dieser mutigen, inzwischen alten, aber ungebrochenen Frau versteht Ruth plötzlich ihre innere Fremde, versteht die Bedeutung von Schweigen und Verrat. 'Komm über den See' verbindet Themenkreise, die seit Beginn an Elisabeth Reicharts Werk formen: Generationsübergreifendes Schweigen, Sprachlosigkeit und Verdrängen, aber auch weiblicher Widerstand gegen eine - immer noch - von Männern beherrschte Welt. Aufwühlend und zeitlos aktuell.

Elisabeth Reichart, aufgewachsen in Oberösterreich, studierte Geschichte und Germanistik in Salzburg und Wien, längere Auslandsaufenthalte in Japan und den USA, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Veza-Canetti-Preis, Österreichischer Würdigungspreis für Literatur und Anton-Wildgans-Preis.

SIE


Vor jeder Erinnerung das Wissen: Alle Sätze in dieses Gestern können nur Brücken zu Inseln sein, was sie verbinden …

In diesem Raum war es, beim Morgengrauen war es, dass wir uns verabschiedeten. Er sagte, ich halte dieses Leben nicht mehr aus, was immer wir tun, es ist zu wenig, auch wenn es weiterhin getan werden muss, von dir getan werden muss, jemand muss es doch tun, ich aber muss zu den Partisanen gehen. Du wirst es schaffen, du kennst die Treffpunkte, kennst die Menschen, denen du vertrauen kannst, kennst die Losungen, die geheimen Orte, die Adressen, wo du das Geld abholen musst, und die Adresse, wo du das Geld hinbringen musst, kennst alles … Nein, sagte er, mitgehen kannst du nicht, in den Bergen sind nur Männer, und außerdem, das Kind, wir können doch das Kind nicht in die Berge mitnehmen, du musst hierbleiben, hier im Tal, was wären wir in den Bergen ohne euch im Tal …

Ich blieb, ich und die anderen Frauen, wir blieben da, wo es die Männer nicht mehr ausgehalten hatten …

Ohne die anderen Frauen hätte ich den Faschismus nicht überlebt, auch wenn wir uns nur selten trafen, jedes Treffen schwierig war und keine Zeit blieb für uns; dass es die anderen Frauen gab, dass du an sie denken konntest, wenn du allein warst, und du warst immer allein in dieser Zeit, das genügte, musste genügen …

In den ersten Wochen, sagt sie, war seine Abwesenheit ein Schock, auf einmal stehst du der Wirklichkeit allein gegenüber, keiner steht mehr neben dir, keiner, den du fragen kannst, keiner, von dem du gefragt wirst, keiner, der einmal statt deiner nachts die Tür öffnet in der Zeit, da sie jede Nacht kamen, da du ihnen jede Nacht die Tür öffnen musstest, keiner, der einmal statt deiner nachsah, ob die Tür auch wirklich wieder zugesperrt ist hinter ihnen, keiner …

Draußen ist es dunkel geworden, sternlose Nacht über den Tälern der Frauen, die das Korn mahlten, das Wild räucherten, die Medikamente besorgten, die Waffen und den Sprengstoff organisierten, die Flüchtenden bargen, den Durst stillten und den Hunger, Geld sammelten und die Verbindungen webten, und hinter mancher Tür ein alter Mann, der zu ihnen gehört hatte in der erinnerten Zeit …

Wir Frauen, sagt sie, sorgten dafür, dass die Männer in den Bergen leben konnten, dass sie kommen konnten, sie kamen nicht oft, außer im Winter, da vertrieb sie der Schnee zeitweise, vertrieb er sie von den Bergen, trieb er sie zurück in die Täler, in den Tälern warteten wir, wenn sie da waren, gingen wir auf die Straße und kehrten den Schnee um, ihre Spuren zu verwischen …

Die Stadt war noch kleiner, als Ruth sie sich vorgestellt hatte. Kaum war sie in eine Straße hineingegangen, war diese bereits wieder zu Ende, nach wenigen Straßen befand sie sich am Stadtrand oder in Villengegenden. Bald kannte sie nicht nur die Straßen der Stadt. Jeder kannte hier jeden, ein Geflüster zog sich vom Westen nach Osten, und nur der See verlockte sie, wenn seine Ufer im Nebel lagen und es aussah, als würden die Möwen in das Nichts hineinfliegen, zu Träumen, die unbestimmt blieben und die die Berge ringsherum um keinen Millimeter versetzten.

Was tun mit all den Menschen, die sie mit ihrem Namen ansprachen, bevor Ruth ihn genannt hatte, denen ihr Name vertrauter war als ihr, die sich manchmal zuzwinkerten, wenn sie Ruth begrüßten, die Tag für Tag die