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Eine unbestimmte Unruhe hatte Gerhard Beckmann aus seinem Refugium auf die abgelegenen Landstraßen im Inneren der Insel getrieben. Die Stille war groß in den Bergen von Sardinien. Sie hatte eine Ausdehnung, hatte Struktur und Masse. Die Stille war lebendig, sie wohnte im gleißenden Licht der Sonne. Aus dieser Stille kamen die Geschichten der sardischen Erzähler, und diese Geschichten retteten vor ihr. Ihnen lauschte Beckmann gerne, wenn sich auf seinen Touren ins dünn besiedelte Inselinnere die Alten auf dem Platz vor der örtlichen Kirche im Schatten der Platanen begrüßten: »Mögest du hundert Jahre alt werden.« Und das Gegenüber erwiderte: »Mögest du sie zählen.«
Er selbst mit seinen einundsechzig Jahren fühlte sich jung, wenn er die Männer in den steifen Joppen mit den zerfurchten Gesichtern in einer der vier sardischen Sprachen reden hörte.
Die Stille der Landschaft war beinahe gewalttätig, sie konnte einen Menschen förmlich erschlagen. Sie konnte ihm den Geist verwirren, ihm den Verstand rauben, sodass er fehltrat und vom Felsen fiel. Sein Freund Lorenzo Farini, Maresciallo der Carabinieri in Porto San Paolo, hatte ihm davon erzählt; davon, wie im Licht der Dämmerung die Berge begannen, sich zu bewegen, die Trekkingtouristen sich verliefen und heillos verirrten.
Die Straße, der er folgte, war kaum befahren, schon länger war ihm kein Fahrzeug entgegengekommen.
Beckmann suchte den dreitausend Jahre alten Olivenbaum, der hier in den Bergen der Gallura irgendwo stehen sollte. Er verließ die SP 136 hinter Calangianus Richtung Lago di Liscia. Still standen die Korkeichenwälder. Der nackte, ochsenblutfarbene Stamm eines Baums leuchtete wie eine Wunde im Grün des Hains. Die Reifenstollen des mehr als zwanzig Jahre alten Range Rovers gruben sich in den Schotter einer schmalen Parkbucht. Die leere Mineralwasserflasche rollte vom Beifahrersitz.
Steil stieg der Hang rechts von ihm an. Skurrile Felsfor