1. KAPITEL
Februar 2005
Abigail Ashton trat aus dem Kutscherhaus, warf den Kopf in den Nacken und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Der Februar in Kalifornien war nicht zu vergleichen mit dem Winter in West-Nebraska. Als sie gestern Morgen von Scottsbluff abgeflogen war, hatte das Thermometer unter null Grad angezeigt, und es lagen fast dreißig Zentimeter Schnee. Hier im Napa Valley herrschten im Vergleich dazu fast milde Temperaturen.
Kein Wunder, dass ihr Onkel seinen Aufenthalt in Kalifornien verlängert hatte. Nicht nur, dass er sich bislang vergeblich darum bemüht hatte, mit seinem Vater zusammenzutreffen, das Wetter allein war schon Grund genug zu bleiben.
Abby lächelte, als sie ihren Blick über das gepflegte Anwesen, The Vines, von Lucas und Caroline Sheppard schweifen ließ. Es war ausgesprochen großzügig von Caroline gewesen, sie und ihren Onkel Grant einzuladen, auf dem Weingut zu wohnen, solange sie im Napa Valley bleiben wollten.
In Anbetracht der Umstände hatte die Frau eigentlich keinen Grund, freundlich zu ihnen zu sein, geschweige denn, sie sogar zu mögen. Schließlich erinnerten sie Caroline schmerzlich an ihre erste Ehe – mit Abbys Großvater Spencer Ashton. Sie schüttelte empört den Kopf. Als der Mann Caroline geheiratet hatte, war ihm im Traum nicht eingefallen zu erwähnen, dass er bereits eine Familie in Nebraska hatte und von seiner ersten Frau Sally überhaupt nicht geschieden worden war.
Als Abby ihren Blick gedankenverloren über die ausgedehnten Weingärten hinter dem Anwesen schweifen ließ, empfand sie großes Mitleid mit Caroline. Die Frau hatte keine Ahnung davon gehabt, dass ihre Ehe mit Spencer gar nicht rechtsgültig war, bis Uncle Grant vergangenen Monat in Kalifornien aufgetaucht war, in der Hoffnung, seinen Vater das erste Mal nach über vierzig Jahren zu treffen.
Natürlich hatte die Neuigkeit sie geschockt, doch sie hatte Klasse bewiesen. Caroline war in Abbys Augen der Inbegriff einer großzügigen Frau. Nachdem sich erwiesen hatte, dass Uncle Grant tatsächlich Spencers Sohn war, hatte sie darauf bestanden, dass er ihre Kinder – seine Halbgeschwister – kennenlernen sollte. Familie war Familie.
Abby biss sich auf die Unterlippe. Sie machte sich Sorgen um Uncle Grant. Er wollte unbedingt seinem Vater gegenübertreten und die Gründe erfahren, warum er seine erste Familie im Stich gelassen hatte. Doch der alte Mann weigerte sich hartnäckig, mit seinem Sohn zu sprechen. Genauso wie er sich weigerte, Kontakt zu den Kindern zu halten, die er mit Caroline gezeugt hatte.
Abby schlenderte zu dem kleinen See hinter dem Kutscherhaus. Ihr war es egal, ob sie jemals ihren verlogenen Großvater kennenlernte oder nicht. Ein Mann, der seine junge Frau und die acht Monate alten Zwillinge in Nebraska allein ließ, dann eine andere Frau in Kalifornien heiratete, ohne überhaupt von der ersten Frau geschieden zu sein, und diese Frau dann wegen seiner Sekretärin verließ, mit der er seine dritte Familie gründete, war es nicht wert, dass man über