KAPITEL 1
Frankfurt, 5. Januar 1764
»... vermache ich im Falle meines Todes, wie bei den Montanaris von jeher üblich, die Firma meinem Sohn Roberto, der dafür sorgen möge, dass der Familienbesitz im Fideikommiss zusammengehalten werde, um ihn einmal in guter alter Tradition seinem ältesten Sohn weitervererben zu können.«
Luisa spürte, wie eine kalte Hand ihr Herz zusammendrückte. Das konnte nicht sein!
»Sind Sie sicher, dass Vater sein Testament nicht noch einmal geändert hat?«
Wie immer hatte ihre Stimme schwach und fiepsig geklungen. Zu leise, um den unablässig gegen die Scheiben trommelnden Regen zu übertönen. Ihr schien es, als wollte der Regen sie verhöhnen, sie wieder und wieder an das erinnern, was drei Tage zuvor geschehen war: Ihr Vater,Domenico Montanari, seines Zeichens Großkaufmann und Inhaber der bekannten Frankfurter Gewürz- und Südfrüchte-HandlungMontanari& Figli, war in dem schlimmsten Hochwasser, das die Stadt seit Jahrzehnten heimgesucht hatte, ertrunken.
Noch nicht einmal begraben hatten sie ihn können, denn seit Tagen schon hatte sich Frankfurt in eine Sumpflandschaft verwandelt, in der man alle Wege auf Planken zurücklegen musste. Der Römerberg war bis oben hin überflutet, sämtliche Gassen überschwemmt, alles stand unter Wasser.Domenico hatte einen Teil seiner Waren im Keller von Grete Dietz gelagert, einer Freundin seiner Frau Sigrid, deren Haus sich ganz unten am Mainufer befand. Er hatte die erst kürzlich aus dem Latium angelieferten dreißig Pecorino-Laibe retten wollen und sich in den schon halb überfluteten Keller begeben, nachdem Grete samt Familie und Dienstboten längst Heim und Hof verlassen und sich bei den Montanaris einquartiert hatte. Als der Gehilfe Hans sich schließlich mit einem Boot auf die Suche nach seinem Herrn gemacht hatte, konnte er nur noch dessen Leichnam bergen.
Warum nur warDomenico dieses Risiko eingegangen?, hatten sich alle verwundert gefragt. Was hätte es schon groß ausgemacht, wenn ein bisschen Käse weggeschwemmt worden wäre? Ihr Vater war immer ein sparsamer Mann gewesen, hatte Luisa versucht, sich und den anderen zu erklären. Auch wenn er reich war, galt Sparsamkeit für ihn als die oberste Tugend eines Kaufmanns. Immer wieder hatte er sie alle an die bescheidenen Ursprünge der Montanaris erinnert. Von einem kleinen Ort am Comer See waren vor nicht ganz hundert Jahren Carlo und Giuseppe Montanari aufgebrochen, um Handel zu treiben. »Pomeranzengänger« und »Zitronenkrämer« hatte man die Italiener damals genannt. Mit einer Kiepe auf dem Rücken waren sie durch die Dörfer gezogen und hatten alles verkauft, was die Bauern gebrauchen konnten. Kaum zu glauben, dass aus solch primitiven Anfängen ein so großes Handelsunternehmen entstanden war.
»Wie bitte?«, fragte der Notar in einem geschraubten Tonfall, den er offenbar für besonders pietätvoll hielt.
Luisa wiederholte ihre Frage, so laut sie konnte.
»Na-tür-lich!«
Der Notar, ein alter Vertrauter ihres Vaters, betonte jede einzelne Silbe feierlich, als würde er zu jemandem sprechen, der nur eingeschränkt zurechnungsfähig war. Luisa hatte ihn nie gemocht, weil er sie immer wie ein kleines Kind behandelte. Schon zehn Jahre zuvor, als es um den Kaufvertrag für die Mühle in Niederursel ging, hatte sie ihren Vater gebeten, den Notar zu wechseln, dochDomenico hatte wieder einmal nicht auf sie gehört. »Er spricht so ein ausgezeichnetes Italienisch«, hatte er nur gesagt. Und auch Roberto hatte nichts davon wissen wollen. »Herablassend findest du den?«, hatte er erstaunt gefragt. »Der ist doch ein hochanständiger Mensch.«
Hinrich Hocke war ein Mann um die fünfzig, der immer wie aus dem Ei gepellt war. Nur dass er heute in Strümpfen dasaß, weil seine Stiefel von dem Hochwasser völlig durchnässt waren. Nun versuchte er unauffällig seine Füße in Richtung Kaminfeuer zu schieben, wohl in der Hoffnung, dass sie so schneller trockneten.
»Nun lass ihn doch erst einmal ausreden, Luisa!«
Sigrid Montanari saß kerzengerade auf der äußersten Kante des wuchti