Penelope Livelys außergewöhnlicher, mit dem Booker Prize ausgezeichneter RomanNachtglimmen fesselt von der ersten Zeile an. »Ich schreibe eine Geschichte der Welt«, sagt die Hauptfigur. »Und während sie sich entfaltet: meine eigene.« Ich erinnere mich noch daran, wie ich diesen eindrucksvollen Anfang zum ersten Mal las – das ist inzwischen viele Jahre her – und dann innehielt und darüber nachdachte, wie unerwartet diese Sätze aus dem Mund einer Frau waren. Eine alte, kranke, sterbende Frau ist die letzte Person, der man eine so kühne Behauptung zutrauen würde. »Mich selbst will ich ins Auge fassen, in meinem Kontext: alles und nichts.«
Auch wenn es in unserer Gesellschaft selten laut ausgesprochen wird, die Wahrheit ist: Wir sind es nicht gewohnt, dass Frauen den Anspruch erheben, für die gesamte Menschheit zu sprechen, dass sie das Persönliche und das Kollektive mit so viel Selbstbewusstsein so untrennbar miteinander verknüpfen. Genau genommen sind wir das Gegenteil gewohnt: Die Erinnerungen von Frauen sollen in ihren eigenen Schubladen bleiben, verschlossen und verriegelt, klar getrennt von der großen Weltgeschichte, die hauptsächlich als männliche Geschichte verfasst und erinnert wurde und wird.
Die französische Philosophin, Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir verstarb1986, nur ein Jahr vor dem Erscheinen vonNachtglimmen. Ich frage mich, was de Beauvoir wohl von Penelope Livelys Meisterwerk gehalten hätte, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte, es zu lesen. Ich glaube, sie wäre begeistert gewesen. De Beauvoir versuchte, die dualistischen Denkmuster aufzuzeigen, auf die sich das Patriarchat maßgeblich stützt. Sie legte dar, wie Männer sich zum Essenziellen, zum »Subjekt« erklärt haben und aus dieser Rolle heraus allgemeingültige Narrative erzählen, während Frauen nur aus ihrer partiellen, subjektiven Perspektive heraus sprechen können. Die bedeutende Literaturkritikerin Toril Moi hat diese Problematik weitergedacht: Von Frauen, schreibt sie, erwarte man nicht, dass sie »mit einem Anspruch auf Universalität sprechen, mit der vermessenen Forderung, dass man mit ihnen übereinstimmt – ein Recht, das Männer seit Jahrhunderten als selbstverständlich annehmen.« Diesen tief verwurzelten Gegensatz bringt Penelope Lively schon mit ihren ersten Zeilen ins Wanken.
Indem sie die unvergessliche Protagonistin Claudia Hampton erschuf und ins Zentrum ihrer Erzählung rückte, hat Lively mehrere Konventionen gleichzeitig gebrochen. Claudia ist intelligent, meinungsstark, leidenschaftlich selbstständig, zeitweise unnahbar, oft aber auch überraschend verletzlich und damit eine einnehmende, wenn auch komplexe Figur. Die Historikerin und ehemalige Kriegsberichterstatterin hat Geschichte nicht nur studiert, sie hat Geschichte gelebt. »War sie jemand Besonderes?«, fragt eine der Krankenschwestern. Und sie war tatsächlich jemand Besonderes. Forscherin, Zweiflerin, Beobachterin, Entdeckerin … Tochter, Schwester, Mutter, Geliebte … sie war eine »Myriade von Claudias«. Jetzt, im hohen Alter, liegt sie in einem Krankenhausbett und denkt über ihr langes, ereignisreiches Leben und die Welt ringsherum nach, und wir, ihre Leser*innen, begeben uns auf eine faszinierende Reise, die Geschichte, Erinnerung und Memoiren vereint. Persönliche Erinnerungen verschmelzen nahtlos mit umfassenderen politischen, sozialen und kulturellen Ereignissen. Nahtlos, nicht aber chronologisch. Unser Gedächtnis ist weder linear noch statisch, die Vergangenheit keine schnurgerade Abfolge von Zwischenfällen und Daten. Der Roman pendelt, analog zur nicht-chronologischen Funktionsweise menschlicher Erinnerungen, zwischen einer subjektiven und einer allwissenden Perspektive. Sich so weit von den traditionellen Normen des Romans zu entfernen, ist kein geringes Risiko, und wir sind dankbar, dass Lively es eingegangen ist, um diese ihr eigene Struktur zu entwerfen.Nachtglimmen ist wie Wasser: Es fließt gleichzeitig in verschiedene Richtungen, ohne je den Fokus oder Rhythmus zu verlieren. Der Roman empfängt die Feinheiten de