: Penelope Lively
: Nachtglimmen
: Dörlemann eBook
: 9783038208839
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Claudia Hampton war Kriegsreporterin, sie ist Schriftstellerin und Historikerin. Eine kluge und selbstbewusste Frau, berühmt, in ständiger intellektueller Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung und sich selbst. Jetzt, todkrank in einem Krankenhausbett, blickt sie zurück. Persönliche Erinnerungen gehen nahtlos über in politische Ereignisse. Sie erzählt von einer Kindheit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, über den Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus. Alles in ihrem Leben ist Gegenwart: Kindheit und Krieg, Ägypten und England, die ganze Welt und ihre Vergangenheit. Aber Claudias Geschichte ist auch mit anderen verwoben, und sie muss denen, die sie kannten und liebten, die Möglichkeit geben, zu sprechen. Da ist Gordon, ihr Bruder und Rivale. Jasper, ihr unzuverlässiger Liebhaber und Vater von Lisa, Claudias kühler, konventioneller Tochter. Und dann ist da noch Tom, ihre einzige große Liebe, und jener tragische Zwischenfall in der Wüste. »Was mich interessiert, ist das Gedächtnis, die Art und Weise, wie Menschen und Landschaften aus Erinnerungen zusammengesetzt sind«, schreibt Penelope Lively. Und darum geht es in Nachtglimmen: Die ganze Welt steckt voller Erinnerungen, die Vergangenheit ist allgegenwärtig - man muss nur, wie Claudia Hampton, bereit sein, die Augen zu öffnen.

Penelope Lively, geboren 1933 in Kairo, wuchs nach der Scheidung ihrer Eltern bei ihrem Vater in Ägypten auf, wo sie Privatunterricht bekam, bis er sie 1946 in ein Internat nach England schickte. Später studierte sie Geschichte an der University of Oxford. Lively schreibt seit 1970 Romane, Erzählungen und Kinderbücher, immer präsent sind die Themen historischer Kontinuität und die Bedeutsamkeit des Erinnerns. Sie stand zwei Mal auf der Shortlist des Man Booker Prize for Fiction, bevor sie ihn 1987 mit Nachtglimmen gewann. Für ihr literarisches Schaffen wurde Lively 2001 Commander of the Order of the British Empire und 2012 zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannt. Sie lebt in London.

Vorwort


Penelope Livelys außergewöhnlicher, mit dem Booker Prize ausgezeichneter RomanNachtglimmen fesselt von der ersten Zeile an. »Ich schreibe eine Geschichte der Welt«, sagt die Hauptfigur. »Und während sie sich entfaltet: meine eigene.« Ich erinnere mich noch daran, wie ich diesen eindrucksvollen Anfang zum ersten Mal las – das ist inzwischen viele Jahre her – und dann innehielt und darüber nachdachte, wie unerwartet diese Sätze aus dem Mund einer Frau waren. Eine alte, kranke, sterbende Frau ist die letzte Person, der man eine so kühne Behauptung zutrauen würde. »Mich selbst will ich ins Auge fassen, in meinem Kontext: alles und nichts.«

Auch wenn es in unserer Gesellschaft selten laut ausgesprochen wird, die Wahrheit ist: Wir sind es nicht gewohnt, dass Frauen den Anspruch erheben, für die gesamte Menschheit zu sprechen, dass sie das Persönliche und das Kollektive mit so viel Selbstbewusstsein so untrennbar miteinander verknüpfen. Genau genommen sind wir das Gegenteil gewohnt: Die Erinnerungen von Frauen sollen in ihren eigenen Schubladen bleiben, verschlossen und verriegelt, klar getrennt von der großen Weltgeschichte, die hauptsächlich als männliche Geschichte verfasst und erinnert wurde und wird.

Die französische Philosophin, Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir verstarb1986, nur ein Jahr vor dem Erscheinen vonNachtglimmen. Ich frage mich, was de Beauvoir wohl von Penelope Livelys Meisterwerk gehalten hätte, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte, es zu lesen. Ich glaube, sie wäre begeistert gewesen. De Beauvoir versuchte, die dualistischen Denkmuster aufzuzeigen, auf die sich das Patriarchat maßgeblich stützt. Sie legte dar, wie Männer sich zum Essenziellen, zum »Subjekt« erklärt haben und aus dieser Rolle heraus allgemeingültige Narrative erzählen, während Frauen nur aus ihrer partiellen, subjektiven Perspektive heraus sprechen können. Die bedeutende Literaturkritikerin Toril Moi hat diese Problematik weitergedacht: Von Frauen, schreibt sie, erwarte man nicht, dass sie »mit einem Anspruch auf Universalität sprechen, mit der vermessenen Forderung, dass man mit ihnen übereinstimmt – ein Recht, das Männer seit Jahrhunderten als selbstverständlich annehmen.« Diesen tief verwurzelten Gegensatz bringt Penelope Lively schon mit ihren ersten Zeilen ins Wanken.

Indem sie die unvergessliche Protagonistin Claudia Hampton erschuf und ins Zentrum ihrer Erzählung rückte, hat Lively mehrere Konventionen gleichzeitig gebrochen. Claudia ist intelligent, meinungsstark, leidenschaftlich selbstständig, zeitweise unnahbar, oft aber auch überraschend verletzlich und damit eine einnehmende, wenn auch komplexe Figur. Die Historikerin und ehemalige Kriegsberichterstatterin hat Geschichte nicht nur studiert, sie hat Geschichte gelebt. »War sie jemand Besonderes?«, fragt eine der Krankenschwestern. Und sie war tatsächlich jemand Besonderes. Forscherin, Zweiflerin, Beobachterin, Entdeckerin … Tochter, Schwester, Mutter, Geliebte … sie war eine »Myriade von Claudias«. Jetzt, im hohen Alter, liegt sie in einem Krankenhausbett und denkt über ihr langes, ereignisreiches Leben und die Welt ringsherum nach, und wir, ihre Leser*innen, begeben uns auf eine faszinierende Reise, die Geschichte, Erinnerung und Memoiren vereint. Persönliche Erinnerungen verschmelzen nahtlos mit umfassenderen politischen, sozialen und kulturellen Ereignissen. Nahtlos, nicht aber chronologisch. Unser Gedächtnis ist weder linear noch statisch, die Vergangenheit keine schnurgerade Abfolge von Zwischenfällen und Daten. Der Roman pendelt, analog zur nicht-chronologischen Funktionsweise menschlicher Erinnerungen, zwischen einer subjektiven und einer allwissenden Perspektive. Sich so weit von den traditionellen Normen des Romans zu entfernen, ist kein geringes Risiko, und wir sind dankbar, dass Lively es eingegangen ist, um diese ihr eigene Struktur zu entwerfen.Nachtglimmen ist wie Wasser: Es fließt gleichzeitig in verschiedene Richtungen, ohne je den Fokus oder Rhythmus zu verlieren. Der Roman empfängt die Feinheiten de