Rilke als Dichter der Angst vorzustellen ist keine sensationelle Neuerung. In den 40er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stand dieser Aspekt seiner Persönlichkeit und seines Werks schon einmal im Zentrum des Interesses, fast wie ein Markenzeichen. Es war die Blütezeit der deutschen Existenzphilosophie und des französischen Existentialismus, und Martin Heideggers Erhebung der Angst zur Grundbefindlichkeit, in der uns das «Ganze des Daseins» erschlossen sei, war in hohem Schwange. Europa lag nach dem Krieg in Trümmern; vor diesem Hintergrund erschienen Lehren, die den Menschen das Gefühl attestierten, ins «Nichts» hineingehalten, radikal auf sich selbst zurückgeworfen und ganz allein verantwortlich für den Sinn des eigenen Lebens zu sein, nur zu plausibel. Begriffe wie «Weltangst», «existentielle Angst», «Daseinsangst», «Freiheitsangst» wanderten aus den philosophischen Seminaren aus und wurden in Zeitungsfeuilletons, Radiosendungen, Politikerreden und Predigten leidenschaftlich diskutiert. Rilke, dessen Sprachbilder – «dieses so ins Bodenlose gehä