: Thomas Arzt
: Das Unbehagen
: Residenz Verlag
: 9783701747412
: 1
: CHF 17.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Das Unbehagen' nimmt uns mit auf eine Reise unter die dünne Haut der Zivilisation - und in eine überwältigende Natur. Ein diffuses Unbehagen ist es, das den Lehrer Lorenz Urbach mehr und mehr befällt, eine politische Unzufriedenheit, eine Überforderung, ein Überdruss. Plötzlich bricht eine ungekannte Aggression aus ihm heraus, er gerät in eine Schlägerei und verliert den Boden unter den Füßen. Als Berichte über ein blutrünstiges Tier auftauchen, das in den Alpen sein Unwesen zu treiben scheint, werden in Lorenz alte Erinnerungen wach. Die Medien spekulieren - ist es ein Wolf? Oder vielleicht doch ein Mensch? - und Lorenz denkt an seine Jugendfreundin Theresa, die Außenseiterin, die Aussteigerin, die immer schon Gewaltbereite ... Er bricht zu einer einsamen Wanderung in die Berge auf, setzt sich den Naturgewalten aus - auf der Suche nach dem 'Ungeheuer' da draußen und dem Ursprung der Gewalt in sich.

Thomas Arzt geboren 1983 in Schlierbach (OÖ), lebt in Wien, studierte Drehbuch und Theaterwissenschaft und zählt seit 'Grillenparz' (2011) am Schauspielhaus Wien zu den meistgespielten zeitgenössischen Dramatikern Österreichs. Neben Publikumserfolgen wie 'Johnny Breitwieser' (2014), 'Die Österreicherinnen' (2019) oder 'Leben und Sterben in Wien' (2024) wurden seine Arbeiten zu Festivals in New York, Buenos Aires, Berlin und Kiew eingeladen. Sein Debütroman 'Die Gegenstimme' (2021) stand auf der Shortlist für den Debütpreis des Harbourfront Festivals und auf Platz 2 des Bloggerpreises 'Das Debüt'. 2025 erschien 'Das Unbehagen'.

2.


Erste Stunde, supplieren für Kollegin Franz, Trauerfall in der Familie, er ließ die Klasse Schilder basteln für den nahenden Aktionstag. Zweite Stunde, schlechter Kaffee und müßiger Smalltalk, Direktorin Freudmann kotzte sich über die Bildungsdirektion aus, es bleibe freilichunter uns, ihr Stimmvolumen schepperte raus in den Eingangsbereich der Schule. Dritte Stunde, Briefromaneam Beispiel von Goethes Werther und Bauers Fieberkopf, ursprünglich geplant unter freiem Himmel, doch der Regen überraschte sie, die sechste Klasse stand triefend im Nass, sie entschieden, ins Café gegenüber zu gehen, dort verebbte der Unterricht und es wurde Eis gegessen. Vierte Stunde, Erster Weltkrieg. Fünfte Stunde, die noch ausständigen Referate im VertiefungsgegenstandLiteratur der Gegenwart, und damit begann das Unheil.

Eigentlich begann es mit Flora. Sie war, wie gewohnt, souverän. Sie referierte über einen ihm unbekannten Roman, einen beinahe aktionistischen Bericht über Klassenkampf und Ausbeutung des Planeten. Er beneidete seine Schülerin um ihre Selbstsicherheit, sie war belesen und interessiert an allem, was auf sie im täglichen Informationsstrom einprasselte,überhaupt beachtlich, stellte er fest, die Blicke der gesamten Gruppe auf ihn gerichtet,allein bei dem Tempo der Nachrichten, dass ihr da nicht durchdreht … Er selbst fühlte sich zunehmend überfordert, oder anders: Er misstraute der Überzeugung, noch etwas Sicheres über das Hier und Jetzt aussagen zu können. Die Eindeutigkeit, mit der im vergangenen Schuljahr Positionen eingenommen werden sollten (Weltkonflikte, ausgetragen in überfüllten Klassenräumen), ängstigte ihn. Demgegenüber liebte er die vermeintlichungebrochene Euphorie und Entschlossenheit seiner Schülerinnen und Schüler. Er wollte für einen Moment mithalten,mit dieser so schillernden Jugend (er war in einem Stadium seines allzu durchschnittlichen Lebens angekommen, in dem er vermehrt derartige Wörter in den Mund nahm: das Alter, das Sterben …), und er brach an dem Tag von Floras Referat eine Diskussion vom Zaun, darüber nämlich, wasBücher imstande wären zu leisten, wasLiteratur an sich für Möglichkeiten in den Raum stelle, wie sehrSprache uns als Waffe für den Kampf gegen die uns umgebenden Umstände bestärke. So in etwa hatte er es gesagt, im schalen Gefühl, allen etwas vorzubeten.Doch kann’s schlussendlich ja nur darum gehen, rief er plötzlich hilflos aus,um die Hoffnung, dass die Zeit, die wir hier alle absitzen, uns beflügelt, aufrichtet. Nicht? Uns wappnet gegen Tristesse und Pessimismus. So schwülstiges Pathos kannte er nicht an sich. Und dann, wie aus einer Faustfeuerwaffe in sein schlappes Mittvierzigerherz gedonnert: Flora.

Es war erwartbar gewesen. Er hatte sie ja dazu aufgefordert, über das Buch hinauszudenken, an das,was jenseits des Schulgebäudes …Aber Herr Professor, unterbrach sie, laut und vor der Klasse stehend,ist doch alles nur Scheiß. Und eigentlich hätte er gern erwidert, dass er nicht ihr Professor sei (er wollte die Form vergessen, aber die Form war stärker), und Flora trug die Vernichtung vor:Wir sitzen hier und reden und reden und es ist trotzdem Scheiß. Kein Geheule folgte,