Erste Stunde, supplieren für Kollegin Franz, Trauerfall in der Familie, er ließ die Klasse Schilder basteln für den nahenden Aktionstag. Zweite Stunde, schlechter Kaffee und müßiger Smalltalk, Direktorin Freudmann kotzte sich über die Bildungsdirektion aus, es bleibe freilichunter uns, ihr Stimmvolumen schepperte raus in den Eingangsbereich der Schule. Dritte Stunde, Briefromaneam Beispiel von Goethes Werther und Bauers Fieberkopf, ursprünglich geplant unter freiem Himmel, doch der Regen überraschte sie, die sechste Klasse stand triefend im Nass, sie entschieden, ins Café gegenüber zu gehen, dort verebbte der Unterricht und es wurde Eis gegessen. Vierte Stunde, Erster Weltkrieg. Fünfte Stunde, die noch ausständigen Referate im VertiefungsgegenstandLiteratur der Gegenwart, und damit begann das Unheil.
Eigentlich begann es mit Flora. Sie war, wie gewohnt, souverän. Sie referierte über einen ihm unbekannten Roman, einen beinahe aktionistischen Bericht über Klassenkampf und Ausbeutung des Planeten. Er beneidete seine Schülerin um ihre Selbstsicherheit, sie war belesen und interessiert an allem, was auf sie im täglichen Informationsstrom einprasselte,überhaupt beachtlich, stellte er fest, die Blicke der gesamten Gruppe auf ihn gerichtet,allein bei dem Tempo der Nachrichten, dass ihr da nicht durchdreht … Er selbst fühlte sich zunehmend überfordert, oder anders: Er misstraute der Überzeugung, noch etwas Sicheres über das Hier und Jetzt aussagen zu können. Die Eindeutigkeit, mit der im vergangenen Schuljahr Positionen eingenommen werden sollten (Weltkonflikte, ausgetragen in überfüllten Klassenräumen), ängstigte ihn. Demgegenüber liebte er die vermeintlichungebrochene Euphorie und Entschlossenheit seiner Schülerinnen und Schüler. Er wollte für einen Moment mithalten,mit dieser so schillernden Jugend (er war in einem Stadium seines allzu durchschnittlichen Lebens angekommen, in dem er vermehrt derartige Wörter in den Mund nahm: das Alter, das Sterben …), und er brach an dem Tag von Floras Referat eine Diskussion vom Zaun, darüber nämlich, wasBücher imstande wären zu leisten, wasLiteratur an sich für Möglichkeiten in den Raum stelle, wie sehrSprache uns als Waffe für den Kampf gegen die uns umgebenden Umstände bestärke. So in etwa hatte er es gesagt, im schalen Gefühl, allen etwas vorzubeten.Doch kann’s schlussendlich ja nur darum gehen, rief er plötzlich hilflos aus,um die Hoffnung, dass die Zeit, die wir hier alle absitzen, uns beflügelt, aufrichtet. Nicht? Uns wappnet gegen Tristesse und Pessimismus. So schwülstiges Pathos kannte er nicht an sich. Und dann, wie aus einer Faustfeuerwaffe in sein schlappes Mittvierzigerherz gedonnert: Flora.
Es war erwartbar gewesen. Er hatte sie ja dazu aufgefordert, über das Buch hinauszudenken, an das,was jenseits des Schulgebäudes … –Aber Herr Professor, unterbrach sie, laut und vor der Klasse stehend,ist doch alles nur Scheiß. Und eigentlich hätte er gern erwidert, dass er nicht ihr Professor sei (er wollte die Form vergessen, aber die Form war stärker), und Flora trug die Vernichtung vor:Wir sitzen hier und reden und reden und es ist trotzdem Scheiß. Kein Geheule folgte,