EINLEITUNG
Das Leben und die Lebewesen im Telegrafenzeitalter
In einem seiner letzten Bücher schreibt Nietzsche, dass er sich ab dem Sommer 1876 mit nichts anderem mehr beschäftigt hat als mit Naturwissenschaften, Medizin und Physiologie.1 Während jede Lektüre für seine schwachen Augen zu einer Herausforderung wurde, begann er ab jenem Zeitpunkt, physikalische Theorien und Grundlagen der Medizin und Biologie seiner Zeit frenetisch zu studieren. Wie lässt sich eine solch radikale Wahl rechtfertigen?
Zur Erklärung dieses Umschwungs schreibt Nietzsche in demselben Abschnitt, er dürste nach Wirklichkeit:
dieRealitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens […] – Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der Tat nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften.2
Nicht dass er so naiv gewesen wäre zu glauben, Physik und Biologie seien in der Lage, die Wirklichkeit zweckmäßig und besser als alle anderen Formen des Empfindens und Denkens zu erfassen.
Doch ebenso wie die strengsten Physiker und Biologen seiner Zeit spürte auch Nietzsche, dass sie ein gemeinsames Ziel verfolgten:
die Überwindung der starren Kategorien des Denkens sowie seiner kollektiven Fiktionen, um vielleicht, mochte es auch nur durch näherungsweise Darstellungen sein, zu fassen zu bekommen, wasdie Wirklichkeit im Allgemeinen undleben im Besonderen bedeuten konnte.
Warum hat sich Nietzsche dazu entschieden, sich mit Leib und Seele den Wissenschaften vom Leben und von der Gesundheit zu widmen? Diese Frage sucht das vorliegende Buch zu beantworten, wie der Titel eindeutig zu verstehen gibt:Nietzsche und das Leben.
Unter »Leben« darf hier nicht so etwas wie ein unbestimmter Ausgangspunkt verstanden werden, denn für Nietzsche genügt es nicht, das »Wesen« der Alten und das »Bewusstsein« der Modernen gegen den »Leib« oder das »Leben«, so wie die Philosophen diese Ausdrücke oft in einem allgemeinen und unscharfen Sinne gebrauchen, einzutauschen. Diesen radikalen Wechsel, der das Leben und den Leib als neuen Anfangspunkt des Denkens setzt, kann die Philosophie seiner Meinung nach nur dann vollziehen, wenn sie sich in ernsthafter und präziser Weise damit auseinandersetzt, was uns die Lebenswissenschaften über die Entwicklung der Arten, die Lebensfunktionen von Organismen und die notwendigen Bedingungen ihres Erhalts lehren.
Aus seiner emsigen und zumeist kritischen Lektüre biologischer Theorien behält Nietzsche zwei wesentliche Einsichten. Auch er gelangt zu der Überzeugung, dass das Leben zwei grundlegende Aktivitäten voraussetzt, die bis heute alle Geschichte der Lebewesen bedingen. Auf der einen Seite setzt sie dieEvolution voraus, eine Annahme, die sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu verbreiten beginnt und mit Darwins Revolution sowie dem durch das Erscheinen vonDer Ursprung der Arten im Jahre 1859
hervorgerufenen Schock auf brachiale Weise durchsetzt. Doch auf der anderen Seite setzt sie ei